Meinung

Im Kessel von Artjomowsk brodelt mehr als eine Krise

So viel ist sicher ‒ die monatelange Schlacht um Artjomowsk nähert sich dem Ende. Alles Weitere ist unklar, zumindest, wenn man westlichen Medien folgt. Das Mantra, die Ukraine müsse siegen, wird immer noch gesungen. Je lauter es tönt, desto näher die westliche Niederlage.

Von Dagmar Henn

Ist Artjomowsk wichtig oder ist es das nicht? Siegt die Ukraine gerade oder verliert sie? In den westlichen Medien ging es in beiden Fragen durcheinander in den letzten Tagen. Wenn die Einheitlichkeit der Erzählung derart schwindet, dann ist im Hintergrund einiges in Bewegung.

Schauen wir einmal, welche Varianten gerade unterwegs sind.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte, wenn russische Truppen die Kontrolle über Artjomowsk erhielten, wäre das keine entscheidende Veränderung in dem Konflikt. Er sähe in einer ukrainischen Entscheidung, die Truppen in das Gebiet westlich der Stadt zurückzuziehen, keinen strategischen Rückschlag. Der ukrainische Präsident Selenskij wiederum betonte, eine Einnahme der Stadt, die er Bachmut nennt, würde den russischen Truppen den Weg nach Kramatorsk und Slawjansk freimachen, des größten Stücks von Donezk, an das sich die Ukraine noch klammert.

Nachdem inzwischen sogar NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg von einem möglicherweise bevorstehenden Fall Artjomowsks sprach, könnte man sagen, dass zumindest an diesem Punkt außerhalb der Ukraine Einigkeit besteht: Die Stadt kann von der ukrainischen Armee nicht länger gehalten werden. Bekannt ist auch, dass diese Armee zwei Brücken gesprengt hat, die zur Versorgung dienten und die für den Rückzug der eigenen Truppen dienen könnten; keine Handlungsweise von Siegern und auch nicht das Vorgehen einer Armeeführung, die sich um die eigenen Leute sorgt.

Währenddessen ist mittlerweile bekannt, dass die Kämpfe in der Stadt zu ungeheuren Verlusten führen, auch wenn in deutschen Talkshows nach wie vor behauptet wird, die russischen Verluste seien viermal so hoch wie die ukrainischen; das wäre ein wahres Zauberkunststück angesichts einer Unterlegenheit an Geschützen von 1:10 und zusätzlich noch einer Rationierung von Granaten, aber so sind nun einmal deutsche Talkshows. So wie auch andernorts der mittlerweile eingestandene Abnutzungskrieg zu Fantasien führt, die Ukraine könne die russische Armee abnutzen.

Der Kyiv Independent, wie aus dem Namen schon ersichtlich eine ukrainische Publikation, veröffentlichte vor einigen Tagen eine sehr eindringliche Beschreibung der Zustände auf der ukrainischen Seite in Artjomowsk. "Wenn du in die Stellung gehst, dann liegt die Chance, dass du da (lebend) herauskommst, nicht einmal bei 50/50", sagt einer der darin befragten Soldaten. "Eher bei 30/70." Während die russische Seite die Möglichkeit hätte, ukrainische Drohnen mit Mitteln der elektronischen Kriegsführung abzufangen, würden die russischen Drohnen ihre Ziele finden. "Wir können drei Stunden unter Mörserfeuer liegen, warten auf Unterstützung, es gibt keine. Wir warten sieben Stunden lang, keine Unterstützung."

Gepanzerte Mannschaftswagen gäbe es so gut wie gar nicht; die theoretisch mechanisierte Infanterie sei nur Infanterie. Und ein Mörserschütze erklärt: "Wenn wir Munition bekommen, bekommen wir zehn 120-Millimeter-Granaten am Tag. Das reicht für eine Minute."

Und obwohl dieser ukrainische Text alle westlichen Mythen wiederholt, bis hin zur vermeintlichen russischen Taktik, mit Menschenmassen zu überrollen, gesteht er ein, wie schlecht die Voraussetzungen vieler ukrainischer Soldaten sind, die in Artjomowsk stehen: "Viele Soldaten sagen, dass den Truppen in Bachmut gerade genug Zeit gegeben wird, um mit einem Gewehr schießen zu lernen – manchmal ist ihre Ausbildung nur zwei Wochen lang, ehe sie an die heißesten Stellen der intensivsten Schlacht dieses Krieges geworfen werden."

Daniel Davies, Oberstleutnant der US-Armee im Ruhestand, erklärt in seiner Analyse der Kämpfe um Artjomowsk: "Auf Grundlage des Verlusts von Soledar im Januar und der Truppenzahl, die Russland Anfang Februar für die Einnahme von Bachmut bereitstellte, hätte die ukrainische Führung ihre Truppen geordnet zurückziehen können, um Anfang bis Mitte Februar neue Stellungen entlang der Linie Slawjansk-Kramatorsk einzunehmen." Das hätte tausende Leben gerettet (der russische Verteidigungsminister Schoigu sprach für die erste Märzwoche von 11.000 Gefallenen auf ukrainischer Seite).

Stattdessen seien Truppen, die für eine Frühlingsoffensive vorbereitet wurden, zusätzlich in den Kessel geworfen worden, die nun bei dieser Offensive fehlen würden. Russland wiederum habe nach Aussage ukrainischer Quellen für eine Offensive "über 300.000 Mann zusammengezogen, ausgerüstet mit 1.800 Panzern, beinahe 4.000 gepanzerten Fahrzeugen und 2.700 Stück Artillerie".

In seiner Analyse in der Asia Times, einer in Hongkong erscheinenden Zeitschrift, kommt der konservative US-Kommentator Brandon J. Weichert zu dem Schluss, der Westen hätte die Möglichkeit zu Verhandlungen im vergangenen Jahr nicht vertun sollen. Auch er übernimmt die Behauptung, die russischen Verluste wären höher als die ukrainischen, kommt aber in Bezug auf die Erwartungen, die im Westen an die Lieferung von Panzern geknüpft werden, zum eindeutigen Fazit: "Angesichts der Verluste, die die Ukrainer bei den Kämpfen im Osten erlitten haben – und vermutlich weiter erleiden werden, während sich der Krieg hinzieht – werden die Panzer auf die Verteidigung der Ukraine keine Auswirkung haben, wenn sie schließlich eintreffen." Die Zeit sei eindeutig auf der russischen Seite, und ein ukrainischer Angriffsversuch in Richtung Krim werde unweigerlich fehlschlagen. Der Westen werde in der Ukraine verlieren und müsse jetzt bestimmen, wie schlimm er verlieren wolle.

Wie sehr an anderer Stelle noch unbegründeter Optimismus gepflegt wird, zeigt sich in einem Artikel in Forbes über die Lieferung von mobilen Brücken an die Ukraine. "Wenn die ukrainischen gepanzerten Brückeneinheiten im Gefecht auftauchen, wird Russland vor der Herausforderung plötzlich auftauchender, sich schnell bewegender ukrainischer Einheiten in schwach verteidigten Gebieten stehen", so der Autor. Als wären diese Fahrzeuge nicht schlicht der Ersatz für die Teile von Ponton-Brücken, die die Ukraine bereits verloren hat, unter anderem bei den versuchten Offensiven in Cherson im vergangenen August.

Zurück nach Artjomowsk. Fest steht auf jeden Fall, dass die Stadt operativ eingeschlossen ist, das heißt, es gibt keinen Weg mehr hinein oder heraus, der nicht von russischer Artillerie abgedeckt wird. Wie viele ukrainische Soldaten eingeschlossen sind, ist unklar; die Schätzungen reichen von 2.000 bis 20.000. In den vergangenen Tagen gab es mindestens einen Versuch seitens der ukrainischen Armee, durch einen Angriff auf die westlichen Positionen des Rings diesen aufzubrechen, der aber scheiterte. Ein Abzug ist derzeit nur noch zu Fuß auf Schlammpfaden möglich. Es kann also nicht geleugnet werden, dass die ukrainische Armee die Chance vertan hat, ihre Truppen rechtzeitig abzuziehen. Vielleicht kann sie den Kessel noch etwas öffnen; dass sie selbst einen Kessel um den Kessel bilden könnte, ist unwahrscheinlich. Mit seiner Einschätzung dürfte Jens Stoltenberg ausnahmsweise Recht behalten.

Die Frage, die nie aufgeworfen wird, ist allerdings – selbst wenn eine Befreiung von Artjomowsk den Weg nach Slawjansk und Kramatorsk frei macht, in allen drei Städten ist die Haltung gegenüber der ukrainischen Armee die gleiche, die die Welt so erschüttert zu Artjomowsk dokumentierte; in allen drei Orten wurde 2014 für eine Trennung von der Ukraine gestimmt. Die strategische Funktion von Artjomowsk für die Ukraine ist einzig auf den Donbass bezogen; die Stadt hat nur einen Nutzen, um den Donbass zu halten.

Das aber ist ein Ziel, das einer Verteidigung der restlichen Ukraine geradezu entgegensteht. Denn wie auch immer die Geschichte zurechtgebogen wird, die Truppen, die die Ukraine im Donbass verliert, hat sie für die Verteidigung jener Gebiete, in denen diese Truppen womöglich willkommen sind, nicht mehr zur Verfügung. Eine Verteidigungslinie entlang des Dnjepr wäre schwach bestückt und, verglichen mit den Orten, in denen sich die ukrainische Armee acht Jahre lang eingegraben hat, auch noch schlecht befestigt. Im Donbass wurden ganze drei Befestigungslinien gebaut, aber dahinter?

Statt eine gestaffelte Verteidigung in der Tiefe aufzubauen, ging immer die ganze Konzentration auf den Donbass, den man doch mithilfe der Minsker Vereinbarungen völlig friedlich hätte halten können. Jetzt muss diese Linie gehalten werden, weil die westliche Unterstützung – und damit auch die völlige Unterordnung der "Verbündeten" unter die USA – nur bestehen bleibt, solange zumindest die Illusion eines ukrainischen Sieges gewahrt bleibt. Das ist eine Falle, die sich der Westen selbst gebaut hat. Und die ihn teuer zu stehen kommen wird.

In den letzten Tagen hat sich nämlich noch etwas geändert: nicht so sehr in Artjomowsk, aber in Awdejewka, der Stadt, aus der Donezk all die Jahre über beschossen wird. In Awdejewka wird nun in größerem Umfang die russische Luftwaffe eingesetzt und die befestigten Stellungen werden aus der Luft bombardiert. Der wahrscheinliche Grund dafür ist, dass die noch aus der Sowjetunion geerbte Luftabwehr der Ukraine inzwischen so weit verschlissen ist, dass die Gefahr für die Flieger schwindet. Es ist kaum anzunehmen, dass die gelieferten westlichen Gerätschaften einen echten Ersatz darstellen können. Bunkeranlagen aus der Luft zu zerbomben geht aber deutlich schneller als durch Artilleriebeschuss. Damit könnte sich die gesamte Geschwindigkeit des Konflikts erhöhen und die Verwundbarkeit der ukrainischen Truppen noch deutlich zunehmen.

Welche Folgen das hat, und welche Folgen die Einnahme von Artjomowsk haben wird, werden wir sehen. Aber abseits aller bekannten oder nicht bekannten Details entlang der Frontlinie gibt es einen weiteren wichtigen Indikator, der zeigt, wie es wirklich steht. Das sind die Entwicklungen im Rest der Welt. Allein die Tatsache, dass mit so viel Energie in Georgien gezündelt wird, belegt, dass die Dinge nicht nach westlichem Plan laufen. Gleiches gilt für den Druck in Richtung China. Und man kann es ebenso in der anderen Richtung sehen. Denn abseits der Zeitungsmeldungen werden die Kämpfe in der Ukraine von Militärs weltweit genauestens beobachtet, nicht nur in Indien oder China. Eine russische Niederlage wäre eine Niederlage der Entkolonisierungswelle, die gerade rollt; aber ebenso zeigt das Fortschreiten dieser Welle von allem am verlässlichsten, wie es tatsächlich auf dem Schlachtfeld bestellt ist.

Und wenn es danach geht, hat der Westen bereits verloren. Der letzte Höhepunkt war die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran; das Ende einer US-amerikanischen Instrumentalisierung Saudi-Arabiens gegen den gesamten schiitischen Raum, die immerhin vierzig Jahre besteht. Ein gewaltiger Schritt, der nicht nur, aber auch auf einer entsprechenden Bewertung der Lage in der Ukraine beruht.

Dem Westen rennt die Zeit davon. Die Folgen der Sanktionen werden fassbarer; nicht nur Handels-, auch Kapitalströme verlaufen anders. Die USA machen zwar gerade Beute in der europäischen Industrie, aber die steigenden Zinsen erhöhen auch Kreditausfälle, während die Realeinkommen inflationsbedingt schrumpfen. In den letzten Tagen gerieten zwei Großbanken in die Schlagzeilen; eine US-amerikanische Bank, die auf Start-Ups, also Risikokapital, spezialisiert war, und Credit Suisse, die ihren Jahresbericht verschob. Es besteht immer die Möglichkeit, dass der Zusammenbruch einer einzelnen Bank wie damals bei Lehman Brothers das ganze Finanzsystem ins Wanken bringt; desto mehr, weil immer mehr Länder in ihrem Handel auf den US-Dollar verzichten.

Dabei steigt das Risiko eines solchen Ereignisses stetig weiter an, je sichtbarer die militärische Niederlage wird, und noch vor dem von den USA für 2028 berechneten Moment, an dem China technologisch nicht mehr zu besiegen wäre, liegt der Moment, an dem eine Welle von Zusammenbrüchen im westlichen Finanzsystem nicht mehr durch das hemmungslose Drucken von Dollars aufgefangen werden kann, weil es für diesen Dollar nicht mehr genug Abnehmer gibt.

Die Vereinigten Staaten haben den Kampf um die Erhaltung ihrer Vormacht auf dem Boden der Ukraine mit militärischen Mitteln begonnen, und es zeichnet sich ab, dass sie ihn dort verlieren können. Sie können ihn aber ebenso gut und womöglich schneller noch wirtschaftlich verlieren. Sie haben wirklich alles auf die ukrainische Karte gesetzt, bis hin zu Schwiegermutter und Unterhose.

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