Meinung

Nicht "mit vorgehaltener Waffe": Warum die Ukrainer für den Beitritt zu Russland stimmten

Von den ersten Stimmungsmessungen bis zu den Referenden sind in den ukrainischen Gebieten Saporoschje und Cherson weniger als fünf Monaten vergangen. In dieser Zeit erlebte die Bevölkerung eine grundlegende Kehrtwende, erzählte der russische Polittechnologe und Vizegouverneur von Sewastopol.
Nicht "mit vorgehaltener Waffe": Warum die Ukrainer für den Beitritt zu Russland stimmten© https://t.me/YugMolodoj/1613

Von Wladislaw Sankin

Eigentlich wird der in Russland weit verbreitete Begriff "Polittechnologie" im westlichen Politlexikon kaum verwendet und ist eher negativ behaftet. Aufgabe eines Polittechnologen ist es, "mit Überzeugungsstrategien, Sympathiesteuerung und ästhetischen Inszenierungen die Seelen der Menschen zu gewinnen", schreibt der Russland-Experte Ulrich Schmid und meint, dass dies im Grunde Vortäuschung und Manipulation sei.

Jegliche "Beeinflussung" der öffentlichen Meinung wird in Deutschland mit schön gefärbten Termini umschrieben – Kommunikationsstrategie, Marketing, Public Relations. An dieser Stelle ist der russische Begriff einen Tick ehrlicher. Das Erfassen politischer Stimmungen und anschließend deren Steuerung im Sinne des Auftraggebers ist die Hauptaufgabe eines Polittechnologen. Es waren die russischen Polittechnologen aus verschiedenen Regionen, die nach der russischen Armee und den ersten humanitären Helfern in die russisch besetzten Gebiete der Ukraine reisten.

Wiktor Tolmatschow ist einer davon. In Russland organisierte er Dutzende Wahlkampagnen, schrieb Lehrbücher zu diesem Beruf und wurde schließlich selbst Politiker. Seit Dezember 2021 ist er Vizegouverneur der Stadt Sewastopol (Sewastopol ist ein eigenständiges Subjekt der Russischen Föderation – Anm. der Red.). In dieser Funktion hat er das Referendum im südukrainischen Gebiet Saporoschje zum Beitritt zu Russland organisiert, da seine Region eine Patenschaft mit der Stadt Melitopol hat. Sein Know-how als Polittechnologe war ihm dabei sehr nützlich.

Wie er in einem auf Telegram aufgezeichneten Gespräch mit seinem Kollegen Semjon Uralow erklärte, habe er das Gebiet Saporoschje zum ersten Mal im Mai besucht, um die ersten Stimmungsmessungen durchzuführen. Er stellte fest, dass 55 Prozent der Befragten sich als Ukrainer identifiziert hatten. Dieser Umstand habe das Endergebnis beim Referendum, wonach ca. 93 Prozent der Teilnehmer für den Beitritt ihrer Region zu Russland stimmten, aber letztlich kaum beeinflusst. Auch die Identität als Einwohner einer bestimmten Stadt oder, wie sich später herausstellte, eine gesamtrussische oder zumindest "geeinte" geschichtliche Identität der Russen und Ukrainer spielten eine große Rolle.

Die ersten Gefühle, die die Menschen nach dem Zusammenbruch der ukrainischen Staatsordnung in ihren Gebieten hatten, waren Schock, Angst und Verwirrung. Es habe anfangs nicht so viele Menschen gegeben, die sich Russland anschließen wollten. Dieser Zustand wurde zwar schnell geändert, diese Arbeit hätten aber nicht Polittechnologen oder Staatsbeamte geleistet, sondern das russische Militär.

"In den Fokusgruppen (Gruppendiskussionen in der qualitativen Sozialforschung) waren wir überrascht zu hören, dass russische Militärangehörige sich mit Maschinenpistolen in die Schlange vor den Geschäften einreihten, während die ukrainischen Militärs sich wie Auserwählte benahmen, nie in einer Schlange standen und oft nicht einmal für die Waren bezahlten. Das russische Militär hat sich sehr anständig verhalten, und die Indikatoren für das Vertrauen in die russische Armee waren zunächst sehr hoch", betonte der Experte.

Dann kamen die Verteilung humanitärer Hilfe und die Auszahlung der Renten in russischen Rubel, wobei selbst die bescheidene Rente in Höhe von 10.000 Rubel viel höher ausfiel als die ukrainische. Aber nicht nur das Materielle wie beispielsweise Reparaturarbeiten an Infrastruktur spielte eine Rolle. Auch die vom russischen Beraterteam propagierte Besinnung auf die gemeinsame historische Erfahrung kam bei den Menschen gut an. Dieses Gefühl drückte sich in der von ihm vorgeschlagenen Formel aus: "Wir sind ein Volk."

Die letzte Phase der Kampagne, so der Polittechnologe, war der Übergang vom Zustand der Angst zu einem Zustand der "ruhigen Entschlossenheit". Und sie basierte auf der These eines geeinten Volkes, die trotz der massiven Verzerrung der Geschichte in den 30 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit nicht beseitigt worden sei. Die Kiewer Rus, Bogdan Chmelnizki, das zaristische Russland, die UdSSR – all das wird von den Menschen wahrgenommen, vor allem von den älteren und mittleren Altersgruppen.

Auch die jüngere Generation unter 30 Jahren habe ihre Ansichten schnell geändert – weil ihnen von der ukrainischen Propaganda eine unwahre Geschichte wie aus einem Comic-Buch erzählt worden war.

"Sie lesen Tolkien-Geschichten über Orks und Elfen und so weiter, aber so funktioniert das nicht. Es gibt noch andere Dinge aus der Wirklichkeit, eine gemeinsame Geschichte und so weiter, und das hat die Fantasieerzählung schnell überlagert", sagte Tolmatschew zuversichtlich.

Er sagte auch, dass die Referenden in den Gebieten Saporoschje, Cherson sowie den Volksrepubliken Donezk und Lugansk im September nach dem überraschenden Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet Charkow angekündigt worden war, um den Menschen in den verbliebenen russisch kontrollierten Regionen ihre Unsicherheit über die Zukunft zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon fest entschlossen, für einen Beitritt zu Russland zu stimmen.

Das Referendum fand in allen vier Regionen an fünf Tagen vom 23. bis zum 27. September gleichzeitig statt. Er nannte die Referenden mit einer Vorlaufzeit von mehreren Monaten ein Erfolgsmodell zur Eingliederung möglicher künftiger Territorien der Ukraine ins russische Staatsgebiet. Allerdings hänge dies vom militärischen Glück ab, das unbeständig sei. Nach der Befreiung weiterer Gebiete von einem nazistischen Regime müsse die Bevölkerung vor die Wahl gestellt werden, ob sie in einem unabhängigen staatlichen Gebilde leben oder Russland beitreten wolle.

Im Laufe des Gesprächs betonte der Experte, dass die Ansicht, Russen und Ukrainer seien im Großen und Ganzen ein Volk, seiner inneren Überzeugung entspreche. Er selbst habe Vorfahren aus dem Gebiet Poltawa in der Zentralukraine. Dabei sieht er sich selbst als "Sibirjak", also als Menschen aus Sibirien, wobei es auch in Sibirien viele Identitäten gibt. Es gebe bei einer russischen "Supranation" viele unterschiedliche Subidentitäten, die ukrainische mit einer regionalen Aufteilung auf West-, Zentral- und Ostukraine sei nur eine unter mehreren.

"Man kann unendlich viel teilen und immer neue Pseudonationalitäten erschaffen", sagte er.

Die einstimmige Bewertung der Referenden in den russisch kontrollierten Gebieten der Ukraine im Westen besagt, dass sie nicht einfach nur illegal, sondern auch unter Zwang und Gewaltandrohung durchgeführt worden waren. Berühmt wurde die Äußerung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, wonach die Menschen zunächst vom russischen Militär erschossen und vergewaltigt werden seien. Erst dann "sollen sie innerhalb von drei Tagen Kreuze machen, während neben einem ein Soldat mit Kalaschnikow steht". Die Referenden hätten mit "vorgehaltenen Waffe am Kopf der Menschen" stattgefunden.

Die ausführlichen Schilderungen aus erster Hand, von einem Spezialisten, der die Referenden als PR-Stratege konzipiert und durchgeführt hat, stellen ebenso wie Baerbock das russische Militär in Vordergrund. Nur wurde der Lauf der Kalaschnikows ihm zufolge nicht auf die Köpfe der Menschen gerichtet, sondern auf den Boden – beim gemeinsamen Schlangestehen. Das bescheidene Auftreten der Menschen mit Gewehr war das Erste, was das Propaganda-Bild des Kiewer Regimes über die "russischen Besatzer" in den Augen der Bevölkerung bröckeln ließ. Also haben im Endeffekt doch Kalaschnikows die Referenden entschieden, nur nicht so, wie dies in Berliner TV-Studios gern gesehen würde.

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