Meinung

Streit ums "Deutschland-Ticket" – oder: von der Gewohnheit, Arme auszugrenzen

Für Arme wie Reiche soll das Deutschland-Ticket gleichermaßen teurer werden. Wer sich das nicht mehr leisten kann, hat wie jetzt schon Pech. Auch andere Arten der Gleichmacherei gehören zum neoliberalen Programm, um die soziale Ungleichheit in Deutschland zu erhalten.
Streit ums "Deutschland-Ticket" – oder: von der Gewohnheit, Arme auszugrenzen© Sean Gallup/Getty Images

Von Susan Bonath

Eigentlich müssten Gegner einer viel beschworenen vermeintlichen "Gleichmacherei" in Deutschland mal wieder auf die Barrikaden gehen. Zwar sind die sozialen Verhältnisse alles andere als gleich. Doch wenn es ans Bezahlen geht, ist Gleichheit neoliberales Programm. Zum Beispiel beim sogenannten Deutschland-Ticket, das man auch als Fahrtausweis der politischen Beliebigkeit bezeichnen könnte. Denn für Arm und Reich, alle gleich, wird der Preis im nächsten Jahr wohl steigen, derweil der Name bleibt. Wobei festzuhalten bleibt: Die wirklich Reichen sind eher weniger auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen.

Nicht lukrativ: Ticket-Planwirtschaftler in Aufruhr

Anders als die "kleinen Leute" haben Lobby-Organisationen wie der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) politisch viel zu melden. Mit seiner jüngsten Ansage hat er wohl die Zukunft vorgezeichnet: Es geht beim Deutschland-Ticket preislich nach oben.

Denn leider sei der Spaß bei der gegenwärtigen Inflation durch teure Energie mit 49 Euro im monatlichen Abonnement nicht mehr bezahlbar. Just zu viele nutzen derzeit diese Fahrkarte, stellte VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff klar. Sonst, so mahnte er, sei das Angebot eben einzustampfen. Kaum fünf Monate nach der Einführung fordert Wolff nun eine Preiserhöhung um 10 auf dann 59 Euro.

Im Frühjahr dieses Jahres hatte man sich nämlich darauf geeinigt, dass Bund und Länder jeweils 1,5 Milliarden Euro pro Jahr für die Finanzierung beisteuern. Der VDV hat nun berechnet, dass 2024 wohl mindestens vier Milliarden Euro fällig werden dürften, also eine Milliarde mehr.

Das Problem sei nun: Die vom Verband in einem Papier aufgeführten rund 13 Millionen Nutzer sprengten das Budget der Zuschüsse. Zumal es bei diesen ein munteres Hin und Her gebe. Viele Bus- und Bahnfahrer schlössen Abos ab und kündigten diese wenig später wieder. Man könnte annehmen, dass vielen schon der jetzige Preis auf Dauer zu teuer ist. Dies, so Wolff, nehme den Verkehrsanbietern die Planungssicherheit.

An dieser Stelle müssten die oben Genannten erneut aufschrecken. Schließlich klingt Planungssicherheit nach Planwirtschaft. Das ist es ja de facto auch, nur dass die Unternehmen nicht für den tatsächlichen Bedarf in der Bevölkerung planen, sondern eben für die Kontostände ihrer Manager und Anteilseigner. Von wegen also, der gelobte Markt funktioniere ganz ohne Plan.

Neoliberale wettern über "Volksgefälligkeiten"

Doch entgegen ihrer Propaganda hatten die Planer offenbar eine viel geringere Nutzung anvisiert. Wohl wussten sie, dass sich die ganz Armen 49 Euro monatlich ohnehin nicht leisten können. Vielleicht unterschätzten sie aber, in welchem Ausmaß die untere Mittelschicht auf Bus und Bahn angewiesen ist, um zur Arbeit zu gelangen. Vielleicht glaubten sie auch, dass Durchschnittsniedrigrentner altersbedingt nicht fit genug sind, Onlinetickets zu buchen und wieder zu kündigen. Man weiß es nicht genau.

Um nun aber die Fehlplanung zu korrigieren, springt vorneweg Bundesverkehrsminister Volker Wissing von der FDP dem VDV bei: Statt den Ticketpreis eventuell einkommensgerecht zu staffeln, um die Kosten des Bundes kleinzuhalten, will er ihn für alle gleich hochschrauben und die Löcher im Netz vergrößern. Denn wird’s für alle teurer, rutschen eben mehr unten durch.

Die AfD hatte bereits im März im Bundestag zusammen mit der CDU/CSU-Fraktion gegen die Einführung des Nahverkehrstickets gestimmt. Zwar beantragte sie damals, dies nur zu verschieben und später als Abo, das nur alle drei Monate kündbar sein dürfe, einzuführen. Aber in Mecklenburg-Vorpommern klärte deren verkehrspolitischer Sprecher, Stephan J. Reuken, darüber auf, was er vom Nutzer-Volk so hält.

Reuken bezeichnete das Ticket damals als "vermeintliche Volksfahrkarte" und "Volksgefälligkeit", die "minimal effizient, aber maximal kostspielig" sei. Die Regierung versuche sich damit, so Reuken weiter, "die Gunst der Bürger zu erkaufen, und zwar auf dem Rücken der Steuerzahler". Eigentlich müsste es hier heißen: auf dem Rücken der "armen Reichen". Ja, wie kann man von diesen auch Solidarität verlangen!

Nun müssen gerade in Mecklenburg-Vorpommern sehr viele "kleine Leute" täglich mit Bus und Bahn zu ihrem Niedriglohnjob fahren. Dieser Sektor ist dort wie überall im Osten, nämlich ganz besonders groß. Wer für wenig Geld malochen muss, zahlt freilich, jedenfalls theoretisch, weniger Steuern als Reiche und dürfte eher auf diese "Volksgefälligkeit" angewiesen sein. Betroffene könnten nun denken: Da ist mein Geld wohl besser angelegt als im 100-Milliarden-Aufrüstungspaket der Bundeswehr.

Doch Steuern für Ärmere auszugeben, ist nicht unbedingt unisono geteiltes Ziel unter besonders Wohlhabenden, die auf derlei "Volksgefälligkeiten" nicht selbst angewiesen sind. So erklingt gerade aus den Reihen dieser Minderheit ganz lautes Geschrei. Wer wie Union, FDP und AfD hier mit einstimmt, ist wohl doch nicht so sehr volksnah, wie er sich nach außen gerne gibt.

Gleichmachen für soziale Ungleichheit

Wie auch immer: Je teurer das für alle gleiche Ticket wird, desto weniger können es sich leisten, während man ab einem gewissen Einkommen gar nicht in die Verlegenheit kommt, es sich leisten zu müssen. Pech gehabt, könnte man auch sagen, denn schließlich ist Ungleichheit Gewohnheit und Programm im "besten Deutschland aller Zeiten", auch wenn man sie mit finanzieller Gleichmacherei erreicht.

Jetzt könnte man auf die in manchen Kommunen erhältlichen Sozialtickets verweisen, die es Armen zumindest ermöglichen, im eigenen Bezirk ein wenig flexibel zu sein. Doch die Betonung liegt auf "manchen", womit vor allem größere Städte gemeint sind, also dort, wo auch die Mieten besonders teuer sind. Vielleicht denken sich ja die Kosten-Gleichmacher, dass es in vielen ländlichen Regionen ohnehin keinen brauchbaren Nahverkehr mehr gibt. Da ist natürlich Wahres dran.

Gleichmacherei für den Erhalt sozialer Ungleichheit ist auch in anderer Hinsicht ein lange erprobtes Mittel. Zum Beispiel beim Kindergeld: Egal ob Millionär oder Armutslöhner: Für alle gibt’s das Gleiche. Halt, nicht ganz für alle: Bei Beziehern von Bürgergeld und sonstiger Grundsicherung wird diese für "alle gleiche" Zulage vom Budget abgezogen. Während sogar Superreiche davon also profitieren, gehen ausgerechnet die Ärmsten leer aus. So ganz gleich geht es bei der Verteilung also doch nicht zu.

Sozialstaat für Reiche

Man stelle sich vor, der Bundestag würde morgen ein Gesetz beschließen, wonach nur noch Menschen bis zu einem bestimmten Verdienst, sagen wir 100.000 Euro netto pro Jahr, Kindergeld erhalten. Der Aufschrei wäre in etwa so laut wie kürzlich beim Elterngeld. Denn das soll für Paare mit einem Kind und einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 150.000 Euro gekürzt werden. Die Ampel diskutiert gerade darüber, das eventuell für ab 2024 geborene Kinder einzuführen.

Betroffen davon wären potenziell gerade einmal 435.000 Familien, wie Statistiker berechnet haben. Doch das Geschrei in den Medien bei bloßer Ankündigung, die Leistung für Reiche (die auch noch den Höchstsatz erhalten) zu kürzen, war so mächtig wie die Lobby für diese Klientel. Letztere ist ja vor allem dafür bekannt, den Ärmsten oft die Butter auf dem Brot nicht zu gönnen. Doch wenn es um die eigenen Pfründe geht, hält man sehr gerne die Hand auf.

Das Fazit liegt auf der Hand: Soviel die Lobby der besonders Wohlhabenden auch dagegen wettert – solange "Gleichmacherei" der Ungleichheit und damit ihren eigenen Privilegien dient, hat sie nichts dagegen. Dass Reiche mehr bezahlen sollen als Arme, kommt für sie jedenfalls nicht in die Tüte. So kann alles bleiben wie es ist, und die ärmere Hälfte der Bevölkerung, die weniger als zwei Prozent des Gesamtvermögens besitzt, darf weiterhin bei der Verteilung vor allem zusehen.

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