Meinung

Der Drang nach Osten – im kollektiven Gedächtnis der Europäer verankert

Josep Borrell hat in einer Rede einen Blick zurück auf die Geschichte der Kriege gegen Russland gezogen. Damit gesteht er sich ein, dass sich die EU auf einen schmachvollen Marsch an den Ort begibt, an dem schon Hunderttausende Franzosen und Millionen Deutsche den Tod gefunden hatten, meint Igor Karaulow.
Der Drang nach Osten – im kollektiven Gedächtnis der Europäer verankertQuelle: www.globallookpress.com © Scherl

Von Igor Karaulow

Josep Borrell, Chef der EU-Diplomatie, hat erneut etwas Interessantes und sogar Konzeptuelles gesagt. Möglicherweise hat er es gar nicht bemerkt, weil er viel redet und keine Zeit hat, alles im Voraus zu bedenken.

Seinem Aufruf zur Bewaffnung der Ukraine war er mit Worten vorausgeeilt, die diesem Aufruf ganz und gar nicht zu entsprechen scheinen. Darin steckt jedoch die große Wahrheit, die jedem Russen seit der Schulzeit bekannt ist:

"Russland ist ein riesiges Land, es ist gewohnt, bis zum Ende zu kämpfen, es ist gewohnt, fast zu verlieren und dann alles wiederherzustellen. Das haben sie mit Napoleon getan, und das haben sie mit Hitler getan."

Hier sehen wir nicht nur das Eingeständnis, dass sich die EU auf einen schmachvollen Marsch an den Ort begibt, an dem schon Hunderttausende Franzosen und Millionen Deutsche den Tod gefunden hatten. Trotz der Jämmerlichkeit der Figur Borrells atmen hier die Rhythmen einer großen Geschichte. In der Tat wird ab einem bestimmten Zeitpunkt – offenbar ab demselben, als Russland begann, eine bedeutende globale Macht zu werden – der Konflikt zwischen einem vereinten Europa und Russland zu einem wiederkehrenden Ereignis und damit zu einem konstanten Phänomen der europäischen Geschichte.

Nun sind wir in der Lage zu beantworten, was ein geeintes Europa ist. Wie sich herausstellt, geht es nicht um die wirtschaftliche Integration oder die Solidarität der demokratischen Staaten. Ein geeintes Europa ist ein geopolitisches Gebilde, das zwangsläufig mit Russland zusammenstößt, möglicherweise wurde es aber auch gerade für einen solchen Zusammenstoß geschaffen. Das erinnert ein wenig an die Geschichte eines so gesamteuropäischen Unternehmens wie der Kreuzzüge, aber auch an die Geschichte der frühen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, denen der militärische Feldzug die gleiche "systemische" und fast rituelle Bedeutung hatte. Doch im Falle der russisch-europäischen Beziehungen handelt es sich nicht um ein Ritual, sondern um ein sinnloses Blutbad, bei dem viele Menschen ums Leben kommen. Hinzu kommt, dass in der Regel nach einem Zusammenstoß mit Russland die jeweilige Fassung des geeinten Europas aufhört zu existieren, was Borrell aber noch nicht bedacht hat.

Borrell hat sich selbst als Nachkomme Adolf Hitlers bezeichnet und damit seine wahre Identität preisgegeben. Selbstverständlich ist er davon überzeugt, dass "dies etwas anderes ist", denn der Führer höchstpersönlich würde einen solchen Nachkommen nicht anerkennen; trotz des bekannten homosexuellen Anstrichs des deutschen Nationalsozialismus wäre der derzeitige europäische Gender-Wahnsinn doch zu viel für ihn. Entscheidend für uns ist hier ein etwas anderer Aspekt des Ganzen: Der europäisch-russische Konflikt ist in Bezug auf die historische Einordnung völlig unveränderlich. Zum Beispiel die Ideologie, in deren Namen sich Europa vereint.

Es ist wahr, dass Napoleon Bonaparte Europa unter dem Banner der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vereinte. Die Leibeigenschaft in den unterworfenen Ländern wurde abgeschafft und die Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt. Vermutlich hat niemand mehr für die Ideale der Demokratie in Europa getan als dieser Usurpator der absoluten Macht. Letztendlich stand er Russland gegenüber – und das schöne Märchen, das so viele romantische Dichter inspirierte, war zu Ende.

Hitler dagegen wurde zum Symbol für ein repressives und regressives Regime. Er war bemüht, ganze Völker zu vernichten. Seine Losung zur Einigung Europas war die Schaffung einer deutschen Ordnung, eine Rückkehr zu den Idealen von Blut und Boden. Und am Ende überfiel er Sowjetrussland in Konflikt. Das Ergebnis ist bekannt.

Außerdem spielt es keine Rolle, wie sich Russland selbst zu diesem Zeitpunkt verhält. Zu Zeiten Napoleons strebte Russland nach Expansion und kämpfte um Finnland, Polen und den Kaukasus. Heute unternehmen wir lediglich den Versuch, etwas von dem zurückzugewinnen, das wir beim Zusammenbruch der UdSSR verloren haben. Und zur Zeit des Krimkriegs hatte es die Allianz der Westmächte eigentlich mit einem Russland zu tun, das sich als Garant stabiler Grenzen und stabiler Regimes in Europa verstand – erinnern Sie sich an das österreichische "Wir werden die Welt mit unserer Undankbarkeit überraschen"? Doch in all diesen Fällen blieben die antirussischen Bestrebungen des Westens unverändert.

Ohne Bedeutung ist auch, was Russland selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt für Europa darstellt. Napoleon betrachtete die Russen einfach als östliche Barbaren, die seine napoleonischen Pläne durchkreuzten. Für Hitler war die UdSSR eine Quelle der schädlichen kommunistischen Ansteckung, wobei er außerdem das Ziel verfolgte, den "Lebensraum" des deutschen Volkes zu erweitern, übrigens auf Kosten der fruchtbaren Ukraine, wo die deutschen Bauern angesiedelt werden sollten. Die sibirischen Öl- und Gasvorkommen waren damals noch unbekannt, und die Entwicklung von Norilsk-Nickel begann gerade erst. Die zeitgenössischen US- und europäischen Politiker sind jedoch sehr daran interessiert, Russlands Bodenschätze auszubeuten, die ihrer Meinung nach in den Dienst der Menschheit gestellt werden, d. h. den Russen unentgeltlich weggenommen werden sollten, denn wie kann es gerecht sein, wenn fast die Hälfte des Reichtums des Erdinneren von zwei Prozent der Weltbevölkerung kontrolliert wird?

Zugegebenermaßen haben wir die EU lange Zeit unterschätzt, was ihr historisches Karma anbelangt. Selbstverständlich, die USA sind die wichtigste und aggressivste globale Macht, für die einen sind sie der Fortschritt, für die anderen ein Aggressor. Die Vereinigten Staaten sind auch der Hauptsponsor der europäischen Einigung. Allerdings schien das vereinte Europa selbst wie ein Klub pensionierter Staaten zu sein, die des Krieges und der großen Geschichte im Allgemeinen müde waren.

Die Mutigsten in Russland träumten davon, wie sich die EU zu einem unabhängigen, vor allem wirtschaftlichen Machtzentrum entwickeln würde, doch selbst diejenigen, die diesem skeptisch gegenüberstanden, waren voller Erwartung, dass Europa mit seiner friedliebenden Trägheit die US-Forderungen nach Gewalt im Nahen Osten und in Afrika, und natürlich auch in Russland, zurückhalten würde. Der Handel, so heißt es, ist wohl besser als Krieg, und wir waren gar nicht so schlecht im Handel.

Leider wurden diese Hoffnungen nicht erfüllt. Der Drang nach Osten – dieser Marsch ist im kollektiven Gedächtnis der Europäer verankert. Die Europäer brennen noch nicht darauf, in den Steppen der Ukraine zu sterben, doch bedienen sie sich so selbstlos der Trommel des Krieges, als ob Heinrich Heines besungener napoleonischer Trommler Le Grand noch lebte und seine Aufgabe nicht vergessen hätte. Sie sind bereit, bis zum Ende Waffen zu liefern, wobei diejenigen Länder den größten Enthusiasmus zeigen, von denen man früher nicht glaubte, dass sie kämpferischer Natur sind, wie etwa die Niederlande oder Lettland.

Doch über kurz oder lang wird die EU ihr Mantra "Russland muss verlieren" mit Menschenleben bezahlen müssen, denn die ukrainischen menschlichen Ressourcen sind begrenzt. Wer wird in den Kampf geschickt: Polen, Rumänen oder sonst jemand? Wer erregt kein Mitleid?

Auf jeden Fall ist es an der Zeit, sich nicht mehr darüber zu wundern, dass die EU einen bewaffneten Konflikt gegen wirtschaftliche europäische Interessen und ohne jedes klare Ziel führt. Denn die EU hat kein Ziel, sondern nur einen Weg. Sie strebt nach Osten, weil sie geeint ist. Folglich ist die Einheit Europas an sich eine Bedrohung für Russland. Unser Land wird sich erst dann sicher fühlen, wenn die europäische Einheit gebrochen ist. Können wir diesen Zustand mit unseren begrenzten Mitteln erreichen? Das Schicksal von Napoleon und Hitler, das Borrell so treffend erwähnt hat, gibt zumindest Anlass zur Hoffnung.

Übersetzt aus dem Russischen.

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