Die Jagd auf "Kreml-Kritiker" und Ex-Spione: Russlands "Sündenregister" im Faktencheck
von Wladislaw Sankin
Es war nicht nur die Bild, die den Kreml und den russischen Präsidenten Wladimir Putin des Mordes an Alexei Nawalny beschuldigte – noch bevor etwas Genaueres über seinen Gesundheitszustand nach einer Notlandung im sibirischen Omsk am 20. August bekannt wurde. Es waren mehr oder weniger alle große deutsche Medien. Mit zahlreichen Politikern von CDU, FDP, SPD und den Grünen präsentierten sie sich in trauter Einigkeit – der Vorwurf gegen Moskau, einen weiteren, diesmal den "schärfsten Kreml-Kritiker" mit einem Giftanschlag ermorden zu wollen, sei mehr als begründet. Die Stellungnahme der Charité am 24. August goss noch mehr Öl ins Feuer, und ab diesem Moment war in den Reden von Politikern sogar von einer Bestrafung Moskaus die Rede.
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Das offizielle Berlin begründete seine Vorwürfe u.a. mit anderen "Beispielfällen, die es leider in der jüngeren russischen Geschichte gab", wie es Regierungssprecher Stefan Seibert einmal formulierte. Welche Fälle? Diese erwähnten deutsche Medien im Zusammenhang mit dem Nawalny-Fall bereits mehrfach – als Vorwurfs-Stapel, wie die NachDenkSeiten sie nannten. Die prominentesten Fälle führte das ZDF unter der vielsagenden Überschrift "Bewiesene und mutmaßliche Anschläge auf Kreml-Kritiker und Ex-Spione" auf. Inwieweit es sich um Anschläge handelt und ob dies tatsächlich bewiesen ist, zeigt unser Faktencheck der am häufigsten genannten Fälle. Wir führen sie in chronologischer Reihenfolge auf:
Die Vergiftung des Politaktivisten Pjotr Wersilow (Zitate hier und im Folgenden vom ZDF)
Im September 2018 wurde der russische Aktivist der Protestgruppe Pussy Riot mit möglichen Symptomen einer Vergiftung in ein Moskauer Krankenhaus gebracht. Später kam er zur Behandlung in die Berliner Charité. Wersilow macht für seine mutmaßliche Vergiftung den russischen Geheimdienst verantwortlich. Als Hintergrund für die Attacke geht er von einem Zusammenhang zu seinen Recherchen über drei im Juli 2018 ermordete russische Journalisten in Zentralafrika aus.
Hier wird ausschließlich die Meinung eines Skandal-Aktivisten als Maßstab genommen. Er verfolgt eigene politische Ziele und kann schon deshalb nicht derart maßgeblich zitiert werden, weil seine Einschätzungen unmöglich frei von Voreingenommenheit sein können. Es wird auch nicht erwähnt, dass Wersilow nach der Behandlung in der Charité komplett genesen ist, nach Russland zurückkam und weiter unbehelligt seiner derzeitigen Tätigkeit als Medienmanager nachgeht. Ebenso wie Nawalny wurde er mit dem Privatjet der NGO "Cinema for Peace" nach Berlin gebracht. Es wird auch nicht erwähnt, dass es ausgerechnet russische Ärzte waren, die Wersilow Erste Hilfe leisteten. So berichtete der Tagesspiegel wenige Tagen nach Wersilows Einlieferung im September 2018:
"Die Leitung der Berliner Charité hält eine Vergiftung des russischen Politaktivisten Pjotr Wersilow für wahrscheinlich – betont aber, keine Hinweise darauf zu haben, wie es dazu gekommen sei. Auch die Ärzte, die Wersilow vor einigen Tagen in Moskau behandelten, seien von einer Vergiftung ausgegangen. Das sagte der Chef der Universitätsklinik, Karl Max Einhäupl (…). Man habe gut mit den Kollegen in Russland kooperiert. Wersilow befinde sich auf dem Weg der Besserung, die Vergiftung soll dank der schon in Moskau erfolgten schnellen Hilfe nicht lebensbedrohlich gewesen sein."
Eine Vergiftung sei "wahrscheinlich", die verwendete Substanz sei jedoch kaum noch festzustellen. Die Mutmaßung über eine Vergiftung im Auftrag des Kreml basiert also einzig und allein auf Spekulationen des Betroffenen und ist keineswegs objektiv. Eine Anspielung auf die "Hand des Kreml" ist deshalb manipulativ.
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Sergei Skripal
Der ehemalige Doppelagent und seine Tochter Julia waren im März 2018 im englischen Salisbury dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift Nowitschok ausgesetzt worden. Beide entgingen nur knapp dem Tod. Westliche Geheimdienste beschuldigen die russische Regierung, den Anschlag als Vergeltung für Skripals Tätigkeit als Doppelagent veranlasst zu haben. Eine 44-jährige Britin, die später mit dem Nervengift in Kontakt kam, starb.
Auch inzwischen Jahre später bleiben die Tat und deren Umstände im "Fall Skripal" unaufgeklärt. Die Angaben der britischen Behörden dazu sind widersprüchlich, lückenhaft und nicht plausibel. Sie erfolgten auch in Umgehung jegliches rechtsstaatlichen Prozedere, oft durch Einstreuung in den Medien durch Privatdetektive oder ungenannte Quellen, was nicht für ihre Seriosität spricht. Die Opfer und Hauptzeugen Sergei und Julia Skripal bekam die Weltöffentlichkeit bislang nicht zu Gesicht, sodass die russischen Behörden den Fall mittlerweile als Entführung russischer Bürger betrachten. Sich ausschließlich auf die Angaben der "Geheimdienste" zu beziehen, heißt, mit dem Fall die gleiche klar politisch motivierte Propaganda zu betreiben. RT Deutsch veröffentlichte mehrmals eigene Faktenchecks sowie die Gegendarstellung russischer Behörden zum Fall Skripal – hier und hier zum Nachlesen.
Vor allem ist es nicht glaubwürdig, Moskau als Motiv zu unterstellen, Rache an einem "Verräter" geübt zu haben. Zur Erinnerung: Skripal hatte für den GRU gearbeitet und sich dann als Informant für den britischen MI6 anwerben lassen. Nachdem er im Jahr 2004 enttarnt worden war, wurde er zwei Jahre später wegen Spionage zu einer 13-jährigen Haftstrafe verurteilt. Während des Gerichtsverfahrens hatte er umfangreich mit den russischen Behörden kooperiert. Im Juli 2010 wurde er im Rahmen eines Agentenaustausches vorzeitig aus der Haft entlassen, woraufhin er nach Salisbury zog.
Skripal hatte somit für die russischen Dienste keinerlei Relevanz mehr. Er war "verbrannt" und hatte ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Laut dem Spionage-Forscher Christopher Nehring wäre ein Anschlag auf einen bereits ausgetauschten Agenten ein "Präzedenzfall", der noch "nicht vorgekommen" sei, weil es gegen die "ungeschriebenen Regeln in der Welt der Spionage" verstoße.
Warum die russische Regierung kurz vor der Fußball-WM im eigenen Land, bei der sich das Land in einem vorteilhaften Licht zu präsentieren gedachte, ein Attentat mit einer Chemiewaffe (!) auf einen unbedeutenden Ex-Agenten und dessen Tochter in der englischen Provinz verüben sollte, erscheint jedenfalls alles andere als plausibel.
Trotz dieser unzähligen Unstimmigkeiten gilt der "Fall Skripal" den westlichen Medien als unbestreitbarer Fall russischer "Grausamkeit". Aus medialer Sicht handelt es sich dabei viel eher um einen klassischen Fall von Propaganda und schwarzer PR.
Alexander Litwinenko
Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker starb 2006 im Exil in London an einer Vergiftung mit hochgradig radioaktivem Polonium. Zuvor hatte er mit den russischen Geschäftsmännern und Ex-KGB-Agenten Dmitri Kowtun und Andrej Lugowoi Tee getrunken. London gibt Moskau die Schuld, das jegliche Verantwortung bestreitet.
Hier wird wenigstens die Position Moskaus erwähnt. Es wäre aber hilfreich zu wissen, welche Indizien Moskau entlasten. Diese werden in den Medien in der Regel vollends ignoriert.
"Das Vereinigte Königreich verweist auf eine 'Bilanz staatlicher Morde' und nennt insbesondere die Ermordung von Alexander Litwinenko in London im Jahr 2006. Dies belegt angeblich 'die Bereitschaft des Kremls, jemanden in diesem Land zu töten'. In Wirklichkeit zeugt der Mord an Alexander Litwinenko von der Bereitschaft Londons, wichtige Informationen als geheim einzustufen und schwere Anschuldigungen zu erheben, die nicht durch Fakten gestützt werden. Nach dem gleichen Skript wird auch diesmal vorgegangen", sagte der russische Botschafter in Großbritannien Alexander Jakowenko im Zusammenhang mit dem Fall Skripal.
Die Untersuchungen zu Litwinenkos Tod wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt und brachten im Januar 2016 im Urteil des Londoner Richters Sir Robert Owen keine prinzipiell neuen Informationen zu schon seit Langem vorhandenen Anschuldigungen gegen Russland zutage. Diese wurden bereits kurz nach seiner Einlieferung im Krankenhaus und damit noch Tage vor seinem Tod und lange vor dem Abschluss jeglicher Ermittlung laut: Der Ex-Kollege Litwinenkos Andrei Lugowoi und der Geschäftsmann Dmitri Kowtun seien für dessen Tod verantwortlich, und sie handelten im Auftrag des Kreml.
Dennoch sind es ausgerechnet deutsche Behörden, die die beiden russischen Tatverdächtigen bereits im November 2006 entlasteten. Wenige Wochen nach dem Vorfall im englischen Salisbury im März 2018 veröffentlichte die russische Staatsanwaltschaft die Dokumente ihrer deutschen Kollegen, denen zufolge das radioaktive Polonium bereits vor der Ankunft von Lugowoi und Kowtun in London festgestellt wurde.
Nikolai Atmoniew, ein Berater des Generalstaatsanwalts, erklärte dazu: "Laut den Schlussfolgerungen unserer deutschen Kollegen, die auf der Grundlage aller von der Hamburger Staatsanwaltschaft – einschließlich der aus Großbritannien – gesammelten Beweise beruht, die auch die von Polonium-210 zurückgelassenen Strahlungsspuren umfassen, war das Polonium bereits in London, bevor Lugowoi und Kowtun am 1. November 2006 dort eintrafen."
Er fügte hinzu, dass nach Angaben der deutschen Staatsanwaltschaft laut britischer Seite "die höchste radioaktive Kontamination im Londoner Büro von Boris Beresowski (ein flüchtiger russischer Oligarch und Milliardär, der zu jener Zeit in London lebte – Anm. der Red.) und im Körper des italienischen Staatsbürgers Mario Scaramella gefunden wurde".
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Nach Angaben der russischen Staatsanwaltschaft überwarfen sich Litwinenko und Beresowski im Jahr 2006. Litwinenko stellte demnach eine Bedrohung für Beresowski dar, weil er Fehler in dessen Asylverfahren sowie die Rolle der britischen Geheimdienste bei seinem Schutz vor der russischen Justiz hätte aufdecken können. Die russische Staatsanwaltschaft glaubt, dass der Exil-Oligarch Litwinenko getötet haben könnte, um seinen Aufenthaltsstatus in Großbritannien zu schützen.
"Wir haben Grund zur Annahme, dass Beresowski damals die Person mit dem stärksten Motiv war, Litwinenko zu töten. Und die Entdeckung einer radioaktiven Spur in seinem Büro ist ein weiterer Beweis für den Fall gegen ihn", sagte Atmoniew.
Doch für die deutschen Medien scheint bei jedem dubiosen Fall die "Mordlust des Kreml" das stärkste Tatmotiv zu sein. Als die Hamburger Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Lugowoi einstellte, wurde darüber berichtet. Als das britische Gericht im Jahr 2016 in einem intransparenten Verfahren sein Urteil über Kowtun und Lugowoi fällte, wurde dieses widerspruchslos hingenommen. Für deutsche Medien kann also ein Urteil eines Londoner Gerichts zur Vergiftung einer derartig brisanten Person wie Litwinenko niemals politisch motiviert sein.
Wiktor Juschtschenko
Im Jahr 2004 wurde der damalige Oppositionskandidat und spätere Präsident der Ukraine schwer krank. Österreichische Ärzte stellten drei Monate später eine Dioxinvergiftung beim Helden der sogenannten Orangenen Revolution fest. Juschtschenkos Gesicht trägt bis heute die Spuren der Vergiftung. Angetreten war er gegen den russlandfreundlichen Kandidaten Wiktor Janukowitsch.
Ja, es ist richtig, dass die angebliche Dioxinvergiftung erst drei Monate später, unmittelbar während des Wahlkampfes festgestellt wurde. Allerdings fehlt hier ein wichtiges Detail: Unmittelbar vor diesem Befund schaltete sich ein Team US-amerikanischer Spezialisten in den Prozess der Behandlung des Patienten ein und brachte die Blutabnahme und den Transport von Blutproben unter seine Kontrolle. Kurz darauf wurde Dioxin im Blut des Politikers in einer seltenen Reinheit festgestellt.
Diese Unstimmigkeiten im dubiosen "Vergiftungsfall" fielen schon den ukrainischen Ermittlern einer Rada-Kommission und später der Staatsanwaltschaft ins Auge. Und der erste hochrangige Whistleblowler, der Rada-Abgeordnete David Schwanija, meldete sich bereits im Jahr 2008 und erzählte, dass diese Vergiftungs-Story eine Erfindung der Polittechnologen im Umfeld des Präsidentschaftskandidaten gewesen sei. Juschtschenko erkrankte tatsächlich schwer an einer bis heute nicht öffentlich genannten, seltenen Krankheit, wurde aber nicht vergiftet.
Im Juli 2019 erklärte der ukrainische Oberste Militärstaatsanwalt Anatoli Matios, dass für eine Vergiftung Juschtschenkos keinerlei Belege vorhanden seien. Noch früher bestätigte das der ehemalige Leiter der Rada-Untersuchungskommission Wladimir Siwkowitsch gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Alle im Umfeld Juschtschenkos wüssten, dass die Vergiftung ein Fake gewesen sei, weshalb er auch seine Version juristisch selbst während seiner Amtszeit nicht habe durchsetzen können.
"Die wichtigste Schlussfolgerung unserer Arbeit war, dass jegliche Beweise für eine vorsätzliche Vergiftung fehlen. Es gab weder Verdächtige noch Verurteilte. Die ganze Geschichte mit der Vergiftung ist eine politische PR-Kampagne", sagte Siwkowitsch.
Infolge dieser Erkenntnisse kann Juschtschenko selbst die Vergiftungs-Story seit Langem nicht mehr aufrechterhalten. Noch zu den Hochzeiten der Skripal-Affäre sprach der britische Sender BBC noch mal mit dem Ex-Präsidenten der Ukraine und fragte ihn, ob er denke, dass Kreml-Chef Putin seine Vergiftung in Auftrag gegeben habe. Juschtschenko antwortete ausweichend: "Ich kenne die Antwort, aber ich kann sie nicht aussprechen."
Dank der angeblichen Vergiftung erlangte Juschtschenko Märtyrerstatus und setzte sich in der dritten (!) Wahlrunde infolge der sogenannten Orangenen Revolution gegen seinen Rivalen, den späteren Präsidenten Wiktor Janukowitsch durch. Die Fakten wurden geschaffen – genauso wie auch der Vergiftungsverdacht. Wenn er gegen den Kreml von wem auch immer erst einmal erhoben ist, wird er im westlichen medialen Mainstream zu einem unanfechtbaren Faktum.
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