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Oleg Zarjow: "Die Lage Russlands war noch nie so bedrohlich wie jetzt"

Oleg Zarjow, viele Jahre ukrainischer Abgeordneter, 2014 einer der Gründungsväter von Noworossija, gilt als stets gut informiert – aus offenen und geheimen Quellen. Nun äußerte er sich zur Zukunft der Ukraine, zu Selenskij und über die größten Fehler Russlands in der Ukraine, im Krieg und lange davor.
Oleg Zarjow: "Die Lage Russlands war noch nie so bedrohlich wie jetzt"Quelle: Sputnik © Alexei Kudenko / RIA Nowosti

Oleg Zarjow wird von ukrainischen "Patrioten" wegen eines Interviews, in dem er sich von einem nationalistischen Journalisten einmal hat in die Enge treiben lassen, als wenig intelligent verlacht. Zu Unrecht: Der Politiker und Geschäftsmann hat nicht nur das anspruchsvollste Studium, das es in der Sowjetunion gab, glänzend abgeschlossen (99 Prozent seiner Kritiker hätten nicht einmal die Vorstufe der Aufnahmeprüfung geschafft), er ist auch eine wandelnde Quelle von Insiderwissen über die ukrainische und internationale Politik.

Seine Warnungen und Prophezeiungen haben sich bisher fast ausnahmslos bewahrheitet. Als er im April 2014 in seinem letzten Auftritt im ukrainischen Fernsehen als unabhängiger Präsidentschaftskandidat mahnte, auf die Stimmen des Donbass zu hören, wurde er niedergeschrien und anschließend von einem nationalistischen Mob krankenhausreif geprügelt. Seine Warnung, dass die Ukraine ohne Dialog in einen blutigen Bürgerkrieg stürzt, wurde wahr.

Nun hat er dem TV-Sender der Oppositionspartei "Gerechtes Russland. Für die Wahrheit" ein Interview gegeben, in dem er über den Stand und die Perspektiven des russisch-ukrainischen Krieges, über die Person des Präsidenten Selenskij und über die Fehler Russlands gesprochen hat. Es lohnt sich, ihm zuzuhören. 

"Nicht alles läuft nach Plan" 

Es falle ihm schwer, Russland, das ihm Asyl gewährt hat, zu kritisieren, beginnt Zarjow seine Antwort auf die Frage nach den Lehren, die aus dem bisherigen Kriegsverlauf gezogen werden müssen. Doch sei es "wahrscheinlich unmöglich" zu sagen, dass alles nach Plan laufe:

"Nicht alles läuft nach Plan. Es herrscht Krieg, Russen töten Russen, und somit ist nicht alles gut. Wir müssen uns zusammentun, auch um den Präsidenten herum, denn man kann die Russen nicht im Krieg besiegen, man kann sie nur durch eine Art von innerer Aufruhr besiegen." 

Auf seine prophetische Mahnung aus dem Frühjahr des vergangenen Jahres angesprochen, ein Rückzug der russischen Armee aus den Vororten von Kiew werde zwangsläufig dazu führen, dass man etwas später einen ukrainischen Angriff auf die Krim wird abzuwehren haben, sagte Zarjow: 

"Sie [die Ukrainer]] bilden drei taktische Gruppen, das sind drei Divisionen. (...) Wenn es vorher ein Rinnsal an militärischer Hilfe gab, ist es jetzt ein reißender Strom. Eine gigantische Menge an gepanzerten Fahrzeugen. Die Soldaten werden in Übersee ausgebildet und ausgerüstet."

Man müsse dem Kommandierenden der ukrainischen Armee Saluschny Anerkennung zollen: Er habe Reserven aufgebaut, die "nicht aufgezehrt, nicht erschöpft" sind:

"Sie sind bereit für eine Offensive auf die Krim."

Man könne nur hoffen, dass die russische Militärführung mit der Entscheidung, vorerst nicht in die Offensive auf Saporoschje zu gehen, klug gehandelt habe, urteilt Zarjow. Wären sie jetzt in die Offensive gegangen, hätten sie die Minenfelder geräumt und ihre Stellungen aufgegeben. So aber halten sie die Frontlinie, und man könne nur hoffen, dass sie auch der ukrainischen Offensive standhalten werden.

Fällt Selenskij irgendwann?

Die Moderatorin interessierte sich daraufhin, ob Saluschny angesichts seiner Popularität Selenskij als Staatschef ersetzen könne. Ja, das könne er, antwortet der Ex-Abgeordnete, Russland solle aber nicht darauf hoffen, dass sich dadurch etwas ändern würde. Außerdem sei ein Personalwechsel in Kiew keine Frage der nächsten Monate. Saluschny sei aus Sicht der USA ein geeigneter Kandidat, denn er arbeitet direkt mit dem Pentagon zusammen, man kennt ihn in Washington. Im Moment hätten die US-Amerikaner jedoch keinen dringenden Bedarf, den populären Selenskij zu ersetzen: 

"Selenskij ist schauspielerisch begabt, er sieht vor der Kamera gut aus, er erfüllt alle Aufgaben, die ihm aufgetragen werden, warum sollte man ihn jetzt abschießen? Er hat gute Werte in Umfragen, ist charismatisch, er sagt all die Dinge, die sowohl Großbritannien als auch die Vereinigten Staaten von ihm erwarten. Dass es um ihn herum korrupte Leute gibt, dass sie einen erheblichen Teil des Geldes, das aus dem Westen kommt, veruntreuen, wissen die USA. Sie nehmen es in Kauf."

Dann wird aus dem Nähkästchen geplaudert, denn die Politikerszene in Kiew war klein und jeder kannte jeden: 

"Bei aller Komik seiner Bühnenfigur ist Selenskij ein harter Führer. In seinem TV-Unternehmen war er ein kleiner Diktator, ein despotischer Chef. So ist er auch als Präsident."

London oder Washington? Wer ist der wahre Feind Russlands in der Ukraine?

Die US-Amerikaner, ist Zarjow überzeugt, waren nicht die Initiatoren der derzeitigen Situation. Nach der Wahl von Selenskij gab es lange Zeit nicht einmal einen US-Botschafter in Kiew. Für Biden war die Ukraine Gift, wegen des Skandals um seinen Sohn, um dessen Anstellung bei "Burisma", um Schmiergelder, um Korruption. Jeder in den USA versuchte, den Kontakt zur Ukraine zu verringern. In dieser Situation waren es die Briten, die das Zepter in der Ukraine übernahmen. Und sie begannen sehr zielstrebig, an der Eskalation zu arbeiten. Erst einige Zeit nach der russischen Intervention im Februar 2022 begannen die USA, sich wieder voll zu engagieren.

Das ändere jedoch nichts daran, dass das Hauptziel der USA heute China ist. Die ukrainische "Episode" sei da eher hinderlich, und in Washington sei man bestrebt, sie zu einem provisorischen Zwischenstand zu bringen. Zarjows Vorhersage lautet jetzt:

"Wenn die ukrainische Offensive im Frühjahr oder Sommer ergebnislos zerschellt, wenn die Frontlinie stabil bleibt, werden die USA meiner Meinung nach die Initiative ergreifen und das Einfrieren des Konflikts vorschlagen."

Der Hauptgegner Russlands, so die überraschende geopolitische Analyse Zarjows, ist derzeit das Vereinigte Königreich, sind nicht die USA. Dabei schaffe es London, seine Politik so zu gestalten, dass alles von den Vereinigten Staaten finanziert wird.

Allerdings sei es für Washington ein einträgliches Spiel:

"Die USA kostet es sprichwörtlich nur ein paar Pennys. Sie gaben 0,1 bis 0,2 Prozent ihres BIP für die Hilfe an die Ukraine aus. In der Zwischenzeit haben die Extraprofite der Öl- und Rüstungskonzerne ihnen einen Zuwachs von zwei Prozent des BIP beschert. Ohne die Ukraine-Krise, die Europa gespalten und zum Kauf amerikanischer Energieträger gezwungen hat, wären die USA jetzt in der Rezession."

Dass den USA irgendwann finanziell die Puste ausgeht, sei ohnehin nicht zu erwarten:

"Sie haben schätzungsweise eine Billion bis drei Billionen Dollar für Afghanistan ausgegeben, und amerikanische Soldaten sind dabei gestorben. Und hier sind es Russen, die sterben, auf beiden Seiten der Frontlinie."

Selenskij hat den Jackpot geknackt 

Die Rede kommt noch einmal auf den ukrainischen Präsidenten. Was erwartet ihn? Die Moderatorin ist besorgt, dass er nach dem Krieg einer gerechten Bestrafung entgehen und auf tropischen Inseln das Leben genießen könnte. 

Zarjow kann sie da nicht beruhigen: "Das Leben ist ungerecht." Alle ukrainischen Präsidenten außer Krawtschuk und Kutschma [Kutschma machte seinen Schwiegersohn Pintschuk zum Milliardär] seien heute Multimilliardäre. Selenskij habe den Jackpot geknackt, jetzt an der Macht mache er "gigantisches Geld":

"Er hat bereits für sich selbst, für seine Kinder, für die Kinder seiner Kinder und für die Kinder, die von den Kindern seiner Kinder geboren werden, vorgesorgt. Ich denke, es wird ihm gut gehen. Ich bin sicher, das Vereinigte Königreich hat ihm, seinen Familienmitgliedern und seinem gesamten Team britische Pässe ausgestellt."

Gewiss, fährt Zarjow fort, der Preis dafür seien blutige Hände. Blut klebe an Poroschenkos Händen, nun klebe es auch an den Händen Selenskijs. Aber:

"Dafür wird er sich vor Gott verantworten. Im Diesseits wird er ein tolles Leben haben."

Welche Fehler hat Russland gemacht?

"Unterschätze deinen Gegner nicht" lautet Zarjows wichtigste Schlussfolgerung, die Russland aus dem bisherigen Kriegsverlauf ziehen müsse. An dieser Stelle schäumt der sonst mit leiser Stimme sprechende, mit allen Wassern gewaschene und stets jedes Wort sorgfältig abwägende Ex-Politiker auf. Er war in den ersten sechs Wochen der Kampagne dabei, fast an der vordersten Linie in den Vororten von Kiew:

"Wie konnten wir mit einer (nur) zweihunderttausend Mann starken Armee in ein großes auf Krieg eingestelltes Land einmarschieren?! Sie befinden sich seit acht Jahren im Krieg mit uns. Das dachten sie und denken sie immer noch. Sie haben vor langer Zeit rechtlich erklärt, dass sie sich in der Region Donezk im Krieg mit der Russischen Föderation befinden. Das war natürlich eine unrealistische Aufgabe für unsere Armee."

Er fährt fort:

"Als der Krieg begann, musste man kämpfen. Nicht über Verhandlungen nachdenken, sondern darüber, wie wir den Krieg gewinnen. Wenn wir den Krieg gewinnen, wird es einen neuen Status quo geben und alles wird gelöst werden."

Aber seine Kritik ist fundamentaler: Wie konnte ein Volk, das eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Verwandtschaft und alles andere hat, überhaupt in eine Situation geraten, in der sich zwei seiner Teile gegenseitig umbringen? Zarjow denkt an die Zeit zurück, als die USA und der Westen erst begonnen hatten, aus der Ukraine ein antirussisches Instrument zu formen:

"Als die Vereinigten Staaten kamen und ihre Politik begannen, standen sie vor einer unmöglichen Aufgabe. Die Bevölkerung der Ukraine war eigentlich russisch, egal welche Sprache sie sprach. Und sie wollten ein antirussisches Land daraus machen. Was für eine Aufgabe, und wie viel weniger hätten wir uns anstrengen müssen, um zu verhindern, dass das passiert. Leider wurde [durch Russland] nichts unternommen. Während des Maidan war ich stellvertretender Vorsitzender der Regierungsfraktion. Ich organisierte den Anti-Maidan und alles, was mit dem Widerstand zu tun hatte. Ich arbeitete mit dem SBU zusammen, ich arbeitete mit der Polizei zusammen, ich hatte alle Informationen. Ich habe gesehen, wie die Botschafter der USA, der EU-Länder, Großbritanniens und Polens gearbeitet haben. (...) Sie haben eine kolossale Arbeit geleistet."

Als der Maidan begann, war dem damals schon erfahrenen Politiker klar, dass der sich gegen Russland richtete, dass es dem Westen dabei überhaupt nicht um die Ukraine ging. In Russland sei er jedoch mit seinen Warnungen auf taube Ohren gestoßen:

"Ich bin im russischen Fernsehen aufgetreten und habe gesagt: Hört zu, es gibt bald eine große Katastrophe. Und mir wurde gesagt: Das ist eure Sache, macht das unter euch aus, wir werden euch mit Gas versorgen. Wenn ihr euch gut benehmt, bekommt ihr einen Preisnachlass."

Zarjow resümiert, es wäre ein fundamentaler Fehler gewesen, dass Russland sich zwei Jahrzehnte lang nicht um die ukrainische Gesellschaft bemüht habe. Es hat mit Politikern und Geschäftsleuten zusammengearbeitet, aber nicht mit den Menschen.

Nach der Katastrophe des Maidan habe Moskau dann im Jahr 2014 "nicht die richtigen Entscheidungen getroffen". Mittlerweile sei es für jeden offensichtlich, dass der Abschluss der Minsker Vereinbarungen ein Fehler war. 

Lage Russlands existenziell bedrohlich wie nie zuvor 

Die Fehler vor 2014 und nach 2014 haben Russland nun in eine existenziell bedrohliche Lage geführt, urteilt Zarjow: 

"Wir Russen waren noch nie in der Situation, in der wir jetzt sind. Selbst im Krimkrieg [Anm.: Russland hatte den Krimkrieg gegen Großbritannien und Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts mit für sich bitteren Folgen verloren] hatten wir einen Verbündeten: Preußen. Jetzt haben wir gar keine Verbündeten, wir sind allein gegen die ganze westliche Welt. Es ist sehr schwer, diesen Krieg durchzustehen, nicht nur schwer ihn zu gewinnen, schwer sogar, ihn zumindest nicht zu verlieren."

Einen Lösungsvorschlag hat Zarjow indes auch: Der Krieg müsse ein Krieg des Volkes, ein "Vaterländischer" werden. Doch stattdessen versuchten die Behörden, das Volk von ihm abzuschirmen: 

"Da läuft also die militärische Sonderoperation, ich komme nach Moskau und hier sagt man: 'Es ist weit weg, wir leben hier unser friedliches Leben. Übrigens, wohin sollen wir in den Urlaub fahren, nach Ägypten, in die Türkei oder nach Sotschi? Auf der Krim ist es wahrscheinlich zu gefährlich.' Mit dieser Einstellung werden wir den Krieg nicht gewinnen."

Als sein Rezept für einen Sieg benennt Zarjow in einem flammenden Abschlussplädoyer drei unerlässliche Zutaten – Wahrheit, Gleichheit und Verantwortlichkeit: 

"Wir hätten den Großen Vaterländischen Krieg [Kampf der UdSSR gegen Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg] nicht gewonnen, wenn es keine Verantwortlichkeit gegeben hätte. Alle Führer waren an der Seite des Volkes, die Kinder aller Führer kämpften an der Front, für Fehler wurde man erschossen. Zumindest verlor man für Pfusch seinen Posten. Ohne dieses wird es nicht funktionieren. Wenn es Fehler gibt, müssen sie benannt werden, die Schuldigen müssen benannt und ihrer Ämter enthoben werden. Und das sollte so schnell wie möglich geschehen. Junge Burschen sterben jeden Tag, wir zahlen für jeden Fehler mit ihrem Blut."

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