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Abwesende "Freunde": Was die Ukraine vom US-Abzug aus Afghanistan lernen könnte

Der schmachvolle Abzug der USA aus Afghanistan könnte für die Führung in Kiew ein Hinweis darauf sein, welchem Ende sie selber begegnen könnten. Ukrainische Offizielle sollten sich vielleicht entsprechende Aussagen anonym gebliebener US-Beamter zu Herzen nehmen.
Abwesende "Freunde": Was die Ukraine vom US-Abzug aus Afghanistan lernen könnteQuelle: AFP © Hoschang Haschimi / AFP

Von Felix Livschitz

 Im Sinne von "Besser spät als nie", hat der Sonderinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR), eine umfassende Untersuchung des Zusammenbruchs der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) veröffentlicht, der nach dem Abzug der USA aus Kabul im August 2021 stattfand. Der Bericht beinhaltet nicht nur schockierende Details über das Ausmaß von Washingtons Verrat an Afghanistan, sondern auch wichtige Lektionen für die derzeitigen Verbündeten der USA.

Wenn man nur wüsste, wie schlimm es wirklich war

Der Zusammenbruch der ANDSF war ein beeindruckendes Spektakel. Die Streitmacht, die im Verlauf von 20 Jahren mit einem Aufwand von 90 Milliarden US-Dollar aufgebaut wurde, schien noch schneller aus dem Rampenlicht abzutreten als das letzte amerikanische Flugzeug, das den Flughafen von Kabul verließ. Und dies, obwohl US-Offizielle im Vorfeld des kompletten Rückzugs des Westens aus Afghanistan gebetsmühlenartig behaupteten, die afghanische Regierung sei mehr als nur in der Lage, sich ohne ausländische Unterstützung zu verteidigen.

Die Einschätzung von SIGAR macht jedoch deutlich, dass dieser Zusammenbruch schon lange im Gange war. Das Abkommen von Doha, das zwischen der Regierung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und den Taliban im Februar 2020 abgeschlossen wurde, bedeutete, dass sich die ANDSF nicht mehr auf die Präsenz des US-Militärs in Afghanistan verlassen konnte, um sich vor Verlusten zu schützen, Waffen und andere Hilfen geliefert oder Gehälter aus Kabul bezahlt zu bekommen. Infolgedessen fehlte es den oft unbezahlten Armeeeinheiten, die im ganzen Land verteilt waren, an Munition, Nahrung, Wasser und anderen Grundbedürfnissen, um "militärische Einsätze gegen die Taliban aufrechtzuerhalten" – und es fehlte folglich an jeglichem Kampfeswillen.

"Die Taliban nutzten die Schwächen in Logistik, Taktik und Führung der ANDSF aus. Direkte Angriffe und ausgehandelte Kapitulationen lösten einen Dominoeffekt aus, bei dem ein Bezirk nach dem anderen an die Taliban fiel", berichtet SIGAR. "Die mediale und psychologische Kriegsführung der Taliban, verstärkt durch eine Berichterstattung in Echtzeit, hat die Entschlossenheit der afghanischen Streitkräfte, weiterzukämpfen, maßgeblich untergraben."

Doch schon vor dem Abkommen von Doha "machten zugrunde liegende und systemische Faktoren, die ANDSF überhaupt anfällig für einen Zusammenbruch." Vor allem die Pläne der USA zum Aufbau der afghanischen Streitkräfte wurden "von einem realistischen Verständnis der dafür erforderlichen Zeit getrennt." Und das, nachdem Washington Jahrzehnte gebraucht hatte, um in Südkorea ein ähnliches Ergebnis zu erzielen.

Auch die militärischen und politischen Berater selbst wurden von SIGAR als "häufig schlecht ausgebildet und unerfahren für eine solche Mission" beurteilt. Die wichtigsten Herausforderungen waren "begrenztes oder gar kein Training vor einem Einsatz im Einsatzgebiet, sowie häufige Rotationseinsätze ohne ordnungsgemäße Übergaben". Diese Mängel bedeuteten, dass die USA weder Beziehungen zu den ANDSF aufbauen noch deren Kampfkraft verbessern konnten.

Trotz des Umfangs an vernichtenden Beurteilungen in dem Bericht schließt dieser mit der Feststellung, dass SIGAR aufgrund dieser Ergebnisse "keine Empfehlungen" für zukünftige Maßnahmen oder Strategien der USA abgibt. Offizielle im Pentagon würden sehr wahrscheinlich sowieso nicht zuhören, selbst wenn Empfehlungen angeboten würden. In einem Anhang des Dokuments wird darauf hingewiesen, dass die Beteiligung des Verteidigungsministeriums an der Untersuchung von SIGAR minimal war und praktisch keine der angeforderten Informationen geliefert wurden.

Das Pentagon "gab nur begrenzte Antworten auf die Anfragen von SIGAR und versäumte jede Frist für die Beantwortung dieser Fragen oder für Rückmeldungen zu Entwürfen dieses Berichts", heißt es in dem Report. Beispielsweise reichte SIGAR im November 2021 ganze 21 Fragen an das Verteidigungsministerium ein und bat um Beantwortung bis zum 21. Dezember 2021. Erst acht Monate später wurden dann "verhaltene Antworten" vorgelegt.

Schlussfolgerungen

Die Schlussfolgerungen aus dem Bericht von SIGAR sprechen eine deutliche Sprache. In erster Linie ist dessen Veröffentlichung eine deutliche Warnung vor dem Schicksal, das enge US-Verbündete erwarten könnte, falls Washingtons "Interessen" dadurch bedient werden, eben diese Verbündeten zu einem beliebigen Zeitpunkt fallen zu lassen.

Beispielsweise wurden Mitglieder der ANDSF, denen es nach dem US-Abzug nicht gelang, aus Afghanistan zu fliehen, entweder getötet oder haben sich "extremistischen Gruppen" angeschlossen. Wie auch immer, sie wurden völlig im Stich gelassen, was ein offensichtliches Ergebnis von Washingtons Handeln war, das wenig Interesse daran zeigte, seinen ehemaligen Stellvertreterkämpfern vor, während oder nach der eigenen Flucht aus dem Land eine sichere Ausreise zu gewährleisten.

Ebenso wird ein Großteil der von den USA hinterlassenen militärischen Ausrüstung – einschließlich gepanzerter Fahrzeuge und Kampfflugzeugen – jetzt von den Taliban sowohl für die Ausbildung als auch für militärische Operationen verwendet. Es zirkulieren in den Sozialen Medien bereits Videos von Militärparaden und militärischen Übungen.

Es ist sogar für Washington schwierig zu erfassen, welche Waffen und welche Munition das Verteidigungsministerium einst nach Afghanistan geschickt hatte. SIGAR stellte fest, dass das Pentagon keine genaue Auflistung der Waffenlieferungen vorlegen konnte und somit weit hinter den Anforderungen einer Rechenschaftspflicht zurückblieb, "um sensible Ausrüstung nachzuverfolgen, die an die afghanische Regierung und die ANDSF übergeben wurde." Dies machte es wahrscheinlich, dass Ausrüstung verloren ging oder gestohlen werden konnte. Interne Kontrollen waren zudem keine Garantie dafür, dass fiktive Aufzeichnungen in den internen Listen erfasst wurden.

Dennoch bemühten sich die USA, einen Teil der Ausrüstung zu retten, die sie der ANDSF zur Verfügung gestellt hatten, insbesondere Flugzeuge, die für die unglückselige afghanische Luftwaffe bestimmt waren. Einige der geborgenen Flugzeuge wurden in den USA eingelagert, während "andere bereits umfunktioniert und an Länder wie die Ukraine geschickt wurden."

Der Hinweis auf diese Flugzeuge, die in die Ukraine gelangten, ist besonders interessant, da Kiew nicht lange nach dem hastigen Rückzug der USA aus Afghanistan – nach 20 Jahren des Scheiterns – zum primären außenpolitischen Fokus des Weißen Hauses wurde. Nachdem in Afghanistan Waffen, Munition, politischer Wille und öffentliche Unterstützung in ganz Europa und Nordamerika aufgewendet wurden, kann der gegenwärtige Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine wahrscheinlich nicht zwei Jahrzehnte aufrechterhalten werden – vielleicht nicht einmal zwei Jahre.

Ukrainische Offizielle möchten vielleicht die Aussage eines anonym gebliebenen Beamten des US-Außenministeriums konsultieren, die im SIGAR-Bericht zitiert wird:

"Lange Zeit hat die afghanische Regierung nicht ernst genommen, dass wir es mit dem Rückzug – dem totalen Rückzug – ernst meinten. Man argumentierte, Afghanistan sei das wichtigste Gebiet der Welt. Wie also könnte man ein Gebiet, dass geopolitisch so wichtig ist, verlassen?"

"Ich habe versucht, den afghanischen Präsidenten darauf aufmerksam zu machen, indem ich ihm sagte, ich wüsste, dass er sehr gut vernetzt sei. Aber in unserem System entscheidet letztendlich der amtierende Präsident, und er sollte dies ernst nehmen, um sich nicht zu verkalkulieren."

Übersetzung aus dem Englischen

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