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Interview: Deutschland wird Beziehungen zu Russland nicht für Georgien wegen Südossetien aufgeben

Im Interview mit RT Deutsch hat die Politikwissenschaftlerin Jewgenija Gorjuschina über Merkels Kaukasus-Besuch und dessen mögliche Folgen gesprochen. Ein NATO-Beitritt Georgiens oder die Gründung einer NATO-Flotte im Schwarzen Meer seien nicht zu erwarten.
Interview: Deutschland wird Beziehungen zu Russland nicht für Georgien wegen Südossetien aufgebenQuelle: Reuters

von Ali Özkök

Jewgenija Gorjuschina ist politische Analystin beim renommierten politischen Forschungsinstitut Russischer Rat für internationale Angelegenheiten (RIAC) und am Südlichen Wissenschaftlichen Zentrum der Russischen Akademie der Wissenschaften (SSC RAS) in Rostow am Don. Ihre Fokusgebiete sind der Nord- und Südkaukasus sowie der Nahe Osten.

Merkel hat den Kaukasus besucht. In Georgien besuchte sie das Grenzgebiet zu Südossetien. Georgien hält weiterhin an der NATO-Mitgliedschaft fest. Wie bewertet Russland das deutsche Engagement im Nachbarland?

Einerseits unterstreicht Merkels Besuch im Kaukasus die Absicht der Bundeskanzlerin, die Inkonsistenz der Trump-Vorwürfe zu demonstrieren, wonach Deutschland von Russland über den Energiesektor "vollständig kontrolliert" würde. Andererseits ist der Kaukasus keine Schlüsselregion für Deutschland, obwohl das Schwarze Meer von großer Bedeutung ist. Berlin ist in Europa proaktiv und will seine Rolle als Zentrum der EU bestätigen.

In Wirklichkeit ist Berlin besorgt über die Visaliberalisierung zwischen den Schengen-Staaten und Georgien. Dies ist auf die immense Migrationsbelastung Deutschlands in den letzten Jahren zurückzuführen. Im Jahr 2017 hat die ausländische Bevölkerung Deutschlands die Rekordmarke von 10,5 Millionen erreicht. Gleichzeitig sind die Beziehungen zwischen georgischen Migranten, Personen in der Diaspora und Georgien äußerst stark, was für Deutschland unrentabel ist. Dies kann zu einer mangelnden kulturellen Assimilation und einer noch stärkeren Fragmentierung der deutschen Gesellschaft führen.

Als Ergebnis des Besuchs von Merkel wurden Vereinbarungen zwischen Tiflis und Berlin im Wert von 193 Millionen Euro als typischer Bestandteil der deutschen Arbeitsagenda für Georgien, den aktivsten Teilnehmer der sogenannten östlichen Partnerschaft, unterzeichnet.

Die ernsthafte Absicht Deutschlands, sich an dem Projekt zur Reservierung von Erdgas in Georgien zu beteiligen, verwirklicht darüber hinaus auch die Stärkung der Achse Aserbaidschan-Georgien, die einen deutlichen Beitrag zur Gewährleistung der Energiesicherheit Deutschlands selbst leistet.

Unter Berücksichtigung der unklaren Beziehungen zwischen Berlin und Washington ist eine beschleunigte Aufnahme Georgiens in die NATO kaum vorstellbar.

Könnte Deutschlands Georgien-Politik die Beziehungen zu Moskau beeinträchtigen?

Georgien ist für Deutschland kein unabhängiges Element in der Kaukasuspolitik, sondern ein wesentlicher Teil der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Die scharfen Bewegungen Berlins in Richtung Tiflis sind möglicherweise mit gewissen Komplikationen zwischen Deutschland und Russland verbunden. Georgien bleibt als strategischer Partner im Kaukasus attraktiv, aber Deutschland wird die Beziehungen zu Russland wahrscheinlich nicht aufgeben, insbesondere nicht aufgrund des Konflikts um Südossetien und Abchasien. Es ist nichtsdestotrotz symbolisch, dass Merkel 2018 ihren zweiten Besuch in Tiflis machte, wie vor zehn Jahren, unmittelbar nach dem Augustkrieg 2008.

Nach weiteren Besuchen in Armenien und Aserbaidschan sagte Merkel zu, zur Lösung des Bergkarabach-Konflikts beizutragen. Wie realistisch erscheint dieser Ansatz, und was kann Deutschland von dieser Initiative erwarten?

Offensichtlich setzt Deutschland für jeden der kaukasischen Staaten eine eigene Agenda um. Eine wirkliche Lösung des Konflikts in Form einer konkreten Entscheidung Deutschlands für Armenien oder Aserbaidschan ist daher kurzfristig praktisch unmöglich. Merkel wird die Parteien weiterhin auffordern, die Gewalt im Konflikt einzustellen.

Ein weiteres Thema ist die Balance von Aserbaidschan zwischen der NATO und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO). Der Beitritt Bakus zur CSTO als Beobachterland kann möglicherweise zu einer bahnbrechenden Einigung über die Konfliktlösung mit Armenien führen. Alijew findet wie Merkel einen persönlichen Zugang sowohl zu Moskau als auch zu den NATO-Ländern, da Aserbaidschan als wichtiger Energiepartner Russlands und des Westens gilt. 

Die georgische Armee hat Javelin-Raketen aus den USA erworben. Sehen Sie das Potenzial für eine neue militärische Eskalation in Georgien wie 2008?

Nein, möglicherweise ist der Transfer der Javelin-Raketen aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte eher symbolisch. Javelin-Raketen wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelt, als die USA Angst vor einem Panzerangriff Europas durch die UdSSR hatten. Der Raketentransfer war notwendig, um Georgien als ewigen NATO-Bewerber an der Leine zu halten. Im Januar 2018 erhielt Georgien schließlich die Javelin-Raketen vom Typ FGM-148. Im April 2018 wurden Javelin-Systeme auch in die Ukraine transferiert - mit dem Verbot, diese Komplexe nicht direkt an der Kontaktlinie im Donbass zu verwenden; das Verbot kann jedoch jederzeit aufgehoben werden. Die Verwendung von Javelin-Systemen wird weder in Georgien noch in der Ukraine eine entscheidende militärische Rolle spielen. Dies ist eine extrem teure Waffe im Vergleich zu analogen Waffen, die in diesen Ländern verwendet und gewartet wird.

Aserbaidschan ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in der Region. Auch geostrategische Interessen scheinen bei dem Besuch eine Rolle zu spielen. Kann der Südkorridor wirklich eine echte Alternative zu Russland werden?

In den nächsten Jahren dürften die Importe nach Europa weiterhin vom russischen Gas dominiert werden. Darüber hinaus verblasst der Glanz des südlichen Korridors angesichts der wachsenden Triade von Russland, der Türkei und dem Iran deutlich. Die geopolitische Komponente bei der Ausrichtung der Kräfte zwischen Russland, dem Iran und Aserbaidschan sowie der Türkei spielt in der Makroregion eine Schlüsselrolle. Die Situation könnte sich erst nach 2030 ändern, da die potenziell höheren Mengen in Aserbaidschan verfügbar sind und politische Hindernisse für die Einfuhr von Gas aus dem Iran bestehen.

Besteht eine realistische Chance, dass Europa Russland in Zentralasien umgeht, um Turkmenistan und Kasachstan mit dem südlichen Korridor zu verbinden?

Diese Perspektive ist im Moment extrem übertrieben. Auf lange Sicht ist es auch unwahrscheinlich.

Russland vereinbarte mit Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan und dem Iran, die Seegrenzen des Kaspischen Meeres festzulegen. Welche geopolitischen Zukunftsperspektiven könnten sich für Russland aus dieser Situation ergeben? Wo sehen Sie Herausforderungen?

Sicherlich ist dies ein wichtiges Ereignis. Es gibt jedoch eine Reihe von Hindernissen zu überwinden. Insbesondere muss Aserbaidschan mehrere Gas- und Ölfelder mit dem Iran und Turkmenistan teilen, darunter das Ölfeld Kapaz/Serdar mit Reserven in Höhe von 620 Millionen Barrel. Anders als weithin angenommen, wird in naher Zukunft eine Intensivierung der Zusammenarbeit Russlands, Aserbaidschans und Turkmenistans erwartet.

Ein weiteres Thema ist Kasachstan, das die unterzeichnete Konvention nicht nur als Perspektive für Pipelines betrachtet, sondern auch als Raum für eigene politische Manöver und Einflussmöglichkeiten. Unterm Strich kann auch dieser Schritt die Interaktion Russlands mit den Ländern der Makroregion anregen.

Wie stark ist der Einfluss der Türkei auf den Kaukasus im Vergleich zu jenem Russlands? Ankara kooperiert mit Russland in Syrien und auch beim Projekt Turkish Stream. Inwieweit besteht die Gefahr, dass die Türkei in Zukunft zu einer ernsthaften Herausforderung für Russland im Kaukasus wird?

Die Türkei ist nach wie vor eine Herausforderung für Russland, und das Pendel der Beziehungen zwischen den beiden Ländern schwankt seit vielen Jahrhunderten. Beide Staaten führten zwölfmal Krieg, was als unfreundliche Tradition angesehen werden kann. Die aktuelle Situation und Diplomatie treiben sie jedoch in Verhandlungen und Zusammenarbeit.

Der Kaukasus ist eine besonders sensible Einflusszone für das postsowjetische Russland. Kurz- oder mittelfristig wird sich der Fokus der Türkei wohl kaum vom Nahen Osten in den Kaukasus verlagern. Die Stärkung des türkischen Einflusses im Nahen Osten ist für Ankara von entscheidender Bedeutung, während Moskau seine Positionen in dieser Region beibehält. Aus diesen Gründen wird sich der ğKaukasus außerhalb der Zone in einem hohen Spannungsrisiko wiederfinden, und das trotz der Tatsache, dass die Türkei ein NATO-Partner des Westens war und ist. Das wird auch trotz Erdoğans ausdrucksstarker Aussagen und Schritte so bleiben.

Ist es möglich, dass Russland seine Balkanpolitik in Zukunft über die Serbien-Achse und eine starke Energiepolitik enger mit der Türkei abstimmt?

Die Balkanfrage ist für Europa ein äußerst akutes Problem. Daher wäre es eine kluge Entscheidung, die Interessen Russlands und der Türkei im regionalen Energiesektor zu bündeln. Ja, eine solche Wahrscheinlichkeit kann greifbar werden, obwohl dieses Thema in den letzten Jahren immer wieder aufgebracht und übertrieben wurde. Dennoch, Serbien hat viel mehr potenzielle Partner außerhalb der Europäischen Union als innerhalb der europäischen Gemeinschaft. Und diese Partner sind die Türkei und Russland. Die Türkei ist derzeit die beste Wahl für Serbien.

In der Vergangenheit wollte die NATO eine Flotte im Schwarzen Meer aufbauen. Wie realistisch war dieses Vorhaben, und wo stehen wir heute?

Diese Perspektive erscheint äußerst vage in Bezug auf den Konflikt in Syrien und die mehrdeutige Position von Trump in der Innenpolitik der Vereinigten Staaten. Eine NATO-Flotte kann ihre Funktion im Falle einer offenen Konfrontation auf der Krim oder im Kaukasus (oder der Absicht, die Konfrontation aufzuwärmen) erst dann erfüllen, wenn die "Atlantisierung" des Schwarzen Meeres abgeschlossen ist. Dafür müssten die Ukraine und Georgien in das NATO-Bündnis aufgenommen werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

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