Meinung

Warschau empört: Russischer Kampfjet fängt polnische Frontex-Maschine über Schwarzem Meer ab

Über dem Schwarzen Meer kam es zu einer polnisch-russischen Konfrontation in der Luft. Der Vorfall zeigt die Absicht Moskaus, unmissverständliche Warnungen an Ex-Partner zu kommunizieren, die sich in ihrer Zuständigkeit verkalkuliert haben. Warschau sieht das anders.
Warschau empört: Russischer Kampfjet fängt polnische Frontex-Maschine über Schwarzem Meer abQuelle: Sputnik © Александр Вильф/РИА Новости

Von Elem Chintsky

Am vergangenen Freitag wurde eine polnische Frontex-Maschine vom Typ Let L410 – mit einem Team des polnischen Grenzschutzes an Bord – von einem russischen Su-35-Kampfjet abgefangen. Das geschah über dem Schwarzen Meer, 60 Kilometer von der rumänischen Küstenlinie entfernt. 

Der polnischen Besatzung gelang es, nach einem anfänglich gefährlichen Höhenverlust, der durch die Manöver der russischen Su-35 verursacht wurde, die Kontrolle über das Flugzeug wiederzuerlangen. Eine halbe Stunde später landete der Frontex-Flieger – samt allen seinen Besatzungsmitgliedern – unversehrt auf dem internationalen Flughafen Mihail Kogălniceanu in Rumänien. 

Das NATO-Hauptquartier erklärte daraufhin am Montag:

"Die NATO Air Policing wurden in höchste Alarmbereitschaft versetzt, da sich ein russisches Militärflugzeug am Freitag über dem Schwarzen Meer in der Nähe von Rumänien einem polnischen Frontex-Flugzeug gefährlich näherte. Die NATO bleibt wachsam."

Und auch die Reaktionen aus Polen ließen nicht lange auf sich warten.

Grundsätzlich gilt: Die kognitive Matrix schreibt vor, dass die EU mit Frontex und jegliche Projekte der NATO stets im Rahmen einer "Friedenssicherung" zu begreifen sind. So gelingt auch gleitend die gespiegelte Annahme, dass jedes Handeln der Russen als chaotischer, bösartiger oder unberechenbar "Akt der Aggression" verbucht und als solcher in den Medien aufbereitet werden kann. 

Der Regierungssprecher der PiS, Piotr Müller, nahm die ihm naheliegendste Interpretation der Ereignisse in Anspruch:

"[Das ist] eine geplante Provokation der Russen."

Der stellvertretende Außenminister Polens, Arkadiusz Mularczyk, erläuterte im öffentlich-rechtlichen polnischen Rundfunk:

"Dies bestätigt die Tatsache, dass Russland ein terroristischer Staat ist und dass alle Handlungen der Behörden und des Militärs des russischen Staates terroristischer Natur sind."

Und außerdem fügte der Volksvertreter hinzu:

"Dies ist ein Element der hybriden Kriegsführung, nicht nur gegen Polen. Das Grenzschutzflugzeug war im Rahmen der Frontex-Mission im Einsatz, es handelte sich also um einen Angriff, eine Vergeltung oder eine hybride Aktion gegen die transatlantische Gemeinschaft. Dies waren nicht nur gegen Polen gerichtete Aktionen."

Dem PiS-Abgeordneten und "Experten für europäische Integration", Jan Mosiński, ist die Ratio Russlands ebenfalls ein Rätsel:

"Es besteht kein Zweifel, dass der Vorfall verurteilt werden sollte. Er hätte mit dem Absturz des polnischen Flugzeugs enden können. [Hier kam es auf] die Professionalität und die außergewöhnliche Gelassenheit der polnischen Piloten an – dies wird sogar von rumänischer Seite hervorgehoben."

Warum es so verblüffend sei, dass "sogar" das NATO- und EU-Mitglied Rumänien sich der Wertung anschließt, bleibt schleierhaft.

Andrzej Szejna, als Vertreter der linken Opposition, erweiterte die Deutung der Ereignisse mit den Worten:

"Ich glaube nicht, dass es sich um ein strategisches Vorgehen Russlands handelt. Der Eintritt der NATO in den Krieg ist ein schwarzer Traum für Wladimir Putin. Das würde eine absolute Niederlage für Russland bedeuten. Heute ist das Land im Krieg in der Ukraine gescheitert. Wie würde es also dem gesamten NATO-Block unter der Führung des US-Militärs entgegentreten?" 

Szejna zufolge tut die NATO den Russen also einen historischen Gefallen, indem sie nicht direkt, sondern mithilfe von Stellvertretern ins Kriegsgeschehen in der Ukraine eingreift.

Am Dienstag besuchte der polnische Präsident die Ostsee-Abteilung seines Grenzschutzes nahe der russischen Enklave Kaliningrad. Laut dem Leiter des Nationalen Sicherheitsbüros des Präsidenten, Jacek Siewiera, soll dieser Besuch "ein Ausdruck der Unterstützung und des Respekts des Präsidenten für die Arbeit des Grenzschutzes sein, insbesondere nach der russischen Luftprovokation in Rumänien."

Zwar nicht ganz "in Rumänien", aber man versteht schon, auf welches Vorkommnis Siewiera anzuspielen versucht.

Eine Ironie hat die ganze Geschichte: Die ursprünglich tschechoslowakische Flugmaschine Let L-410 wird seit 2016 gänzlich in Russland hergestellt. Die tschechische Firma selbst ist bereits seit 2008 in russischem Besitz. Das dafür verantwortliche Ural-Zivilluftfahrt-Werk (UZGA) ist seit der Rückkehr der Halbinsel Krim in die russische Staatlichkeit im Jahr 2014 offiziell von allen EU-Ländern sanktioniert – auch von Polen. Trotzdem gelang es der Morawiecki-Regierung Anfang 2019 zwei neue Let L-410 von den Russen zu akquirieren. Und das, obwohl Warschau die Möglichkeit hatte, das eigene Werk im polnischen Mielec zu verpflichten: Dort wird ein ebenso leistungsfähiges Flugzeug herstellt – die M28 Bryza. Somit wurde die kostbare Möglichkeit, die eigene aerodynamische Schwerindustrie zu stimulieren, von den Polen verpasst.

Vielleicht war es eine der beiden 2019 erstandenen, russischen Maschinen, die letzte Woche von ihren eigenen Herstellern in ihre Schranken gewiesen worden ist? In jedem Fall sind die fortschrittlichen Radare und ausgezeichneten Fernbeobachtungssysteme an Bord der zivilen Let L-410 – und wie diese über dem Schwarzen Meer genutzt werden könnten – den Russen sicherlich gut bekannt.

Eine mögliche russische Sicht auf die Konfrontation

Nach einer erfolgreichen Serie von NATO-Erweiterungen Richtung Russland, die ihre Anfänge in den 1990er Jahren nahmen, kommt nun auch der jüngste, finnische NATO-Beitritt in diesem Jahr hinzu. Ein schwedischer "Anschluss" hängt noch von den türkischen Wahlen im Mai ab, in Stockholm selbst sei man aber zuversichtlich, heißt es. Und dann ist da noch der etwas steinige und unsichere NATO-Beitrittsversuch des Kiewer Regimes, der sich seit 2014 (und besonders ab 2022) im trotzigen, blutigen Kriegsprozess befindet und bereits 2008 von den Russen – klar und deutlich hörbar in Washington D.C. und München – als "rote Linie" bezeichnet worden war. All das wird abgerundet von der westlichen Nebelkerze namens "Minsker Abkommen" ab 2015, die die Glaubwürdigkeit des Wertewestens in ein gefährliches Rekordtief manövrierte. Ein russisches Verständnis für die "Bedürfnisse" der Polen an der südöstlichen EU-Außengrenze ist entsprechend auf absolute Sparflamme heruntergedreht worden.

Auch die ständige Diskriminierung der russischen Vertretung in der Republik Polen, die vor Ort mittlerweile zum guten Ton mutiert ist, hat allem Anschein nach das diplomatische Fass für Moskau zum Überlaufen gebracht hat.

Russland könnte – anders als bisher – schon bald anfangen, die EU-Außengrenzen eher als nationale Grenzen zu betrachten. Die Polen haben bekanntlich keine Küste am Schwarzen Meer. Wenn der polnische Grenzschutz über dem Schwarzen Meer umherfliegt, könnte eine kollegiale Assoziation mit Rumänien unzureichend sein, um Bewegungsfreiheit zu genießen.

Das Schwarze Meer ist eine extrem angespannte geopolitische Region, wo jegliche Abschweifungen von den üblichen Akteuren als pikant empfunden werden können. Den Polen könnte kurzzeitig entgangen sein, dass seit Februar 2022 ein Krieg läuft, den sie selber regelmäßig als russischen "Vernichtungskrieg" gegen die Ukraine titulieren. Und gleichzeitig machen sie offizielle Ausflüge in Gegenden, in denen sie eigentlich nicht viel verloren haben.

Von den empörten Stimmen Polens wird die EU-Schirmherrschaft über Frontex herangezogen, um diese polnisch-rumänische, "routinierte" Patrouillenmission über dem Schwarzen Meer – im internationalen Luftraum – als vollkommen harmlos dastehen zu lassen. Des Weiteren soll die russische Vorgehensweise als irrational, leichtsinnig und ohne jegliche Rechtfertigung hingestellt werden. Diese von der polnischen Republik ausgehende Naivität – nachdem dort unter anderem russische Botschafter angegriffen und russische Schulen geschlossen worden sind – ist mittlerweile kaum mehr mit gesundem Menschenverstand wegzurationalisieren.

Gleichzeitig ist es den Russen wohl mittlerweile egal, in welchen supranationalen Vereinen sich westliche Länder organisieren. Wenn ein russophobes EU-Land, das keine eigene Küstenlinie am Schwarzen Meer genießt, genau dort spazieren fliegt, dann wird es eben auf seiner Flugroute abgewürgt. Egal, wie viele Gefühle im Wertewesten damit wohl gekränkt werden.

Wenn die polnische Führung bei diesem Vorkommnis schon empört und konsterniert ist, will man sich gar nicht die erschütterte Verblüffung Warschaus bei der russischen Reaktion auf eine hypothetische "Frontex-Erkundung" an der EU-Außengrenze etwas weiter nördlich, im Luftraum der westlichen Ukraine, vorstellen. Ambitioniertere Absichten kommuniziert Polen ja schon regelmäßig seit über einem Jahr, nur ist das meistens unter dem Mandat eines "befriedenden NATO-Einsatzes".

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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