Meinung

Was blieb von der Neutralität Österreichs? Nicht viel!

Neuerlich ist eine Neutralitätsdebatte von Bern bis Wien entbrannt. Als möglicher Status für Kiew in der Nachkriegszeit geistert das Konzept einer Neutralität durch diverse Papiere. Karin Kneissl wirft einen Blick zurück auf die Neutralität ihres Heimatlandes Österreich.
Was blieb von der Neutralität Österreichs? Nicht viel!Quelle: Legion-media.ru © Alex Halada

Von Dr. Karin Kneissl

Als ich im Jahr 1985 an der Universität Wien meine Diplomprüfung im Völkerrecht ablegte, musste man auf die Frage "Kann Österreich den Europäischen Gemeinschaften beitreten?" noch klar mit "Nein, das ist mit dem verfassungsrechtlichen Status der immerwährenden Neutralität unvereinbar" antworten. Vier Jahre später schickte Wien ein Beitrittsgesuch nach Brüssel. Kurioserweise schrieb eben jener Jurist, der an der Uni Wien vehement über die Unvereinbarkeit von Neutralität und europäischer Integration doziert hatte, jenes Gutachten, das genau das Gegenteil behaupten sollte. Das Recht ist eben keine exakte Wissenschaft, kann man meinen.

Zutreffender ist vielleicht der in Österreich allgegenwärtige Opportunismus. Die englische Sprache kennt den Spruch "You cannot have the pie and eat the pie", man kann also nicht den Kuchen behalten und gleichzeitig verspeisen oder sich ständig wie ein Fähnchen im Wind drehen. Genau dies ist aber in Wien gelebte Praxis, wie sich gerade in Zeiten des Krieges und der Sanktionen ablesen lässt. Kaum eine vergleichbare Volkswirtschaft profitierte derart von russischen Investitionen und kaum irgendwoanders brach danach eine derartige Russophobie aus, die sich vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen abwärts durch die gesamte Gesellschaft zieht.

Doch zurück zur Neutralitätspolitik. Im Jahre 1992 wurde aus den Europäischen Gemeinschaften auf der Basis des damals heftig umstrittenen Vertrags von Maastricht die Europäische Union, die EU, die mit ihrer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik nun auch ihre damals noch 12 Mitglieder vor völlige neue politische und rechtliche Verpflichtungen stellte. In Dänemark und in Frankreich wurde diese umfassende Volte auch umfassend öffentlich diskutiert, und das Volk stimmte (mehrmals) ab. Die neue Union hatte ihre Mühe, angesichts der vielen Kriege im zerfallenden Jugoslawien eine gemeinsame Position zu formulieren. Die NATO und die USA erledigten ein Kapitel dieser Serie von Balkankriegen mit ihrer Intervention im Dezember 1995 und sind seither in der Region massiv präsent. Der Kosovokrieg im Jahr 1999 verschärfte dies nochmals.

Die vielen Widersprüche und der Ukrainekrieg

Am 1. Januar 1995 traten die drei "Neutralen" der indes immer politischer agierenden Europäischen Union bei. Es handelte sich um Schweden, Finnland und Österreich. Die Rechtsgrundlagen für den jeweiligen Neutralitätsstatus unterscheiden sich jedoch.

Im Falle Finnlands prägt seit jeher die Geographie und damit die lange gemeinsame Grenze mit Russland die Außenpolitik und die Interpretation der Neutralität,  die 1920 beschlossen wurde, wodurch dann aber im Winterkrieg 1944/45 die Finnen auf sich allein gestellt waren. Es ging Helsinki stets darum, sich aus dem Kalten Krieg herauszuhalten. Im März 2022 jedoch stellte die sozialdemokratische Regierung ihren Antrag auf NATO-Beitritt.

Schweden hatte seit 1814 an keinem der Kriege mehr mitgewirkt, woraus sich eine traditionelle Neutralität entwickelte. Während der Weltkriege erklärte sich Stockholm mehrfach neutral, jedoch florierte der Handel mit NS-Deutschland, und die Spionage zugunsten der USA war in Schweden im Kalten Krieg Alltag. Womit wir wieder beim Opportunismus sind, der nicht nur in Mitteleuropa Tradition hat, wenngleich er dort besonders stark verbreitet ist. Schweden stellte gleichzeitig mit Finnland den Antrag auf Aufnahme in die NATO. Die Türkei hat bislang ihr Veto dagegen eingelegt, da Schweden den Bedingungen zur Terrorismusbekämpfung nicht nachgekommen ist.

Die Neutralität Österreichs ist anders gelagert

Österreichs "immerwährende Neutralität" ist viel jünger als jene der Schweiz, sie basiert auf einer Serie von Verhandlungen, die nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 begannen. Am 15. April 1955 unterzeichneten die sowjetische und die österreichische Regierung das "Moskauer Memorandum", welches wesentlicher Bestandteil für die Wiedererlangung der österreichischen Souveränität wurde.  Genau einen Monat später wurde in Wien feierlich der Staatsvertrag unterzeichnet, der den Abschluss der Alliierten Besatzung Österreichs (1945-1955)  durch Großbritannien, Frankreich, die USA und die Sowjetunion bildet.  Mit der Ratifizierung durch Österreich und die vier Alliierten trat der Staatsvertrag am 27. Juli 1955 in Kraft. Nach dem Abzug sämtlicher Truppen, nämlich am 26. Oktober 1955, beschloss das österreichische Parlament in Form eines Verfassungsgesetzes die immerwährende Neutralität.

All jene Akademiker und Politiker, die lieber gestern als morgen die Neutralität aufgeben wollen, betonen stets, dass die Neutralität ausschließlich ein innerstaatliches Gesetz sei, wenn auch im Verfassungsrang, und damit Wien jederzeit einseitig darauf verzichten könnte. Bei dieser Argumentation werden die komplexen Verhandlungen, das Moskauer Memorandum und letztlich der Staatsvertrag völlig außer Acht gelassen. Ohne diese völkerrechtlichen Verträge wäre weder der Truppenabzug noch die Erklärung der Neutralität möglich gewesen. Österreich wäre genauso wie Deutschland im Jahre 1954 in eine Ost- und eine Westzone mit Truppenpräsenz geteilt worden.

In der außenpolitischen Praxis orientierte man sich in Wien in der Folgezeit am Schweizer Modell, stand dieses doch auch für Wohlstand und ein schönes, freundliches Image, welches wiederum dem Tourismus, allen Formen voran dem Konferenztourismus dank der aktiven Amtssitzpolitik unter Kanzler Bruno Kreisky zugute kam und noch kommt. Die österreichische Wirtschaft profitierte vom Neutralitätsstatus massiv, ohne aber darin außenpolitisch oder auch materiell ernsthaft zu investieren.

Die EU-Mitgliedschaft hat die "immerwährende" Neutralität auf die bloße Bündnislosigkeit reduziert. Noch ist die Neutralität aber ein Bundesverfassungsgesetz. Ihre Aufhebung bedürfte einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Bereits Anfang der Nullerjahre setzte in Österreich eine intensive Debatte zur Abschaffung der Neutralität ein. Der NATO-Einsatz in Afghanistan im Herbst 2001 sorgte dann in Wien für eine gewisse Ernüchterung. Gegenwärtig startet ebenso wieder eine solche, die ein Sammelsurium von Pensionisten aus Militär und dem diplomatischen Dienst mit einigen jüngeren Köpfen vereint. Was sie verbindet, ist meines Erachtens ahistorisches Denken. Zudem hätten viele der Unterzeichner der aktuellen offenen Briefe ohne die Neutralität ihre Karrieren in internationalen Organisationen nicht gemacht.

Die Friedensfazilität für den Waffenkauf

Aktuell befindet sich Österreich mit seiner klaren Unterstützung der Ukraine als eine der Konfliktparteien in einem politischen aber zunehmend auch rechtlichen Dilemma.

Mit Hilfe eines neuen Finanzierungsinstruments, das bemerkenswerterweise "Friedensfazilität" heißt, versorgt Brüssel die Ukraine mit Waffen und Ausrüstung. Dazu angeregt hat vor einem Jahr der Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäische Union, Josep Borrell. Seither hat die EU im Rahmen der Friedensfazilität Waffen im Wert von 3,6 Milliarden Euro an Kiew gespendet. Damit hat Brüssel die Sicherheitspolitik an sich gerissen, und zwar rechtswidrig. Moskau könnte nun eigentlich behaupten, dass die EU mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine zur Kriegspartei wurde. Allerdings sind Verteidigungs- und Außenpolitik noch nationalstaatliche Kompetenz.

Dieses Budget der Friedensfazilität war im März 2021 für die Nachbarschaftspolitik mit Drittstaaten der EU, wie eben der Ukraine, geschaffen worden. Es geht um ein Volumen von 5,7 Milliarden Euro, welches die EU-Kommission nun meines Erachtens zweckwidrig und vor allem zum Schaden der Neutralen für Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt.

Bereits von der EU-Kommission angekündigt ist zudem der gemeinsame Einkauf von Munition, wie man auch gemeinsam Impfstoffe erwarb. Damit wird das Eis der "militärischen Neutralität", auf dem sich die noch neutralen EU-Staaten bewegen, immer dünner.

Die sezierte Neutralität

Im Vergleich zur Irakinvasion im März 2003 oder dem Kosovokrieg 1999 handhabt Wien zudem seine Neutralität mit Blick auf Überflugrechte und Transit für Waffentransporte im Fall des Ukrainekriegs viel lockerer. Aus der Ferne betrachtet und bei Durchsicht von Beiträgen in den sozialen Netzwerken gewinnt man gar den Eindruck, dass Söldner und Waffenlieferungen über österreichisches Staatsgebiet kaum ausreichend geprüft und kontrolliert werden. Diese Tatsache wie die Handhabung der Sanktionen hat u.a. zu Äußerungen von ungarischen Politikern geführt, welche wohl zu Recht darauf verweisen, dass Ungarn als NATO Staat neutral agiert im Vergleich zum neutralen Österreich, denn Ungarn erlaubt keine Waffentransporte für die Ukraine über sein Staatsgebiet.

Auch der zweitwichtigste NATO-Staat, die Türkei, verweist auf die UNO-Charter und wehrt sich gegen den wachsenden US-Druck, an den Sanktionen gegen Russland mitzuwirken.

In vielfacher Hinsicht sezieren die neutralen Staaten ihren völkerrechtlichen Status, indem sie neue Attribute von "kooperativer Neutralität" hinzufügen, wie zuletzt die Schweiz, oder sich, im Falle Österreichs, klar politisch hinter eine Kriegspartei stellen. Die Neutralität verkommt damit zunehmend zu einer hohlen Schale, die doch noch bis zu vor Kurzem ein Füllhorn an Wohlstand und Frieden darstellte.

Die Schweiz so unglaubwürdig wie Österreich

Für die Schweiz waren territoriale Integrität und staatliche Unabhängigkeit früh mit Neutralität verknüpft. 1638 weigerte sie sich als erster Staat unter Bezugnahme auf diesen Grundsatz, ein Durchmarschrecht zu gestatten, womit die Basis zur Akzeptanz der Unversehrtheit eines Neutralen Territorium geschaffen wurde. Die Schweizer Neutralität geht auf das 16. Jahrhundert zurück, als die Eidgenossenschaft Gleichgewichtspolitik verfolgte und dauernde Neutralität praktizierte. Im Westfälischen Frieden (1648), der Europa neu ordnete, wurde diese Neutralität vertragsrechtlich verankert. Im Zweiten Weltkrieg respektierten auch Berlin und Rom die Neutralität der Schweiz, da von der Gelddrehscheibe der Schweizer Banken alle profitierten.

Die Schweiz, obzwar mit Genf Sitz des Völkerbundes und später UNO-Sitz, trat nach zwei zuvor gescheiterten Referenden erst im Jahr 2002 der UNO als Vollmitglied bei. Die Unvereinbarkeit zwischen Sanktionen des UN-Sicherheitsrates und der Neutralität fiel lange ins Gewicht. Im Zuge des Ukrainekriegs und der vielen einseitigen Sanktionen beteiligte sich die Schweiz an fast allen EU-Sanktionen, darunter auch an der Beschlagnahme von russischem Eigentum. In diesen Wochen überwirft sich aber die Schweiz u.a. mit Deutschland, wenn es um die Lieferung von Munition für die Leopard-Panzer geht. Die Schweizer Regierung will hier neutral bleiben.

Doch als ein wahrhaft neutraler Vermittler und Gastgeber von Verhandlungen kommt die Schweiz aus Moskauer Sicht nicht mehr in Frage. Am Rande der UNO-Vollversammlung im September 2022 forderte der russische Außenminister Sergei Lawrow die Schweiz auf, zur Neutralität zurückzukehren.

Sowohl Bern als auch Wien haben aus russischer Sicht ihre traditionelle Rolle als Gastgeber indes verspielt. Österreich ist indes über die zuvor beschriebene EU-Friedensfazilität an den Militärlieferungen an eine der Kriegsparteien involviert. Zudem bezieht der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen fragwürdige Positionen, wenn er vom Neujahrempfang in Wien, dem Sitz vieler internationaler Organisationen, explizit russische Diplomaten auslädt. Dieser diplomatische Affront wird kaschiert, indem auch die Vertreter aus Belarus und Iran erstmals nicht an dieser universalen diplomatischen Praxis eines Empfangs durch das Staatsoberhaupt teilnehmen durften. Wer immer die Sanktionen in Österreich zu kritisieren wagt, wird vom Bundespräsidenten als Kollaborateur und Handlanger Putins beschimpft – so geschehen anlässlich der Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen im Sommer 2022. Der Applaus des dort vertretenen österreichischen und deutschen Publikums war laut. Der Bundespräsident ist mit seinem nicht neutralen Auftreten in Österreich sehr populär, so führte ihn seine erste Reise nach der Wiederwahl nach Kiew.

Ein Zukunftskonzept für die Ukraine in der Nachkriegszeit?

Immer wieder wurde die Idee ventiliert, der Ukraine den Status der Neutralität mit internationalen Garantien zu ermöglichen, um auf diese Weise den Konflikt zwischen Moskau und Kiew zu entschärfen, der seit den ersten Maidan-Protesten im Herbst 2004 vor sich hin köchelt, bevor es dann im Februar 2014 zum Sturz der ukrainischen Regierung kam.

Das Völkerrechtsbüro des österreichischen Außenministeriums bot zu diesem Zwecke technische Assistenz an, denn seitens der ukrainischen Behörden bestand Interesse an der Idee, die doch stets auch die Verheißung von Wohlstand spüren ließ. So manche Konsultation zum Thema scheiterte am Widerstand der US-Konsulenten im ukrainischen Außenministerium.

Persönlich hatte ich stets Zweifel an diesen Vorschlägen, da es meines Erachtens geographische Grenzen für Neutralität gibt. Dieser Status eignet sich für kleine Staatsgebiete, aber nicht für Länder wie die Ukraine.  Die Idee der Neutralität hat zudem im letzten Jahr stark an Attraktivität eingebüßt. Jene Staaten, die de jure neutral sein sollten, verhalten sich de facto nicht so, wie es ihre eigene Verfassung fordert. Andere wiederum wollen ihre Bündnisfreiheit aufgeben. Einen neutralen Kurs hingegen fahren die NATO-Staaten Ungarn und die Türkei.

Sollte es in einer Nachkriegsordnung tatsächlich zu einer neuerlichen Diskussion über eine neutrale Ukraine kommen, so wird jedenfalls heute das passende Modell fehlen. Als sich Österreich im Jahre 1955 mit der Idee anfreundete, neutral zu sein, half das Schweizer Modell, das eine starke Anziehungskraft hatte. Diese ist dahin.

Für die Ukraine werden völlig neue Ideen zu entwerfen sein, denn die Welt bewegt sich in diesen Tagen auch in völlig neue Zeiten. Der Blick zurück hilft wenig. Und zukünftige Konferenzen zum Thema werden weder in Genf noch Wien abgehalten werden, eher in Istanbul oder Peking.

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