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Abkehr von Westeuropa: Russland muss seine Wendung nach Osten und Süden festigen

Der Orientierungswechsel der russischen Diplomatie vom globalen Westen nach Osten und Süden geschah nicht aufgrund des Willens Russlands. Allerdings bietet er neue Chancen und müsste stärker vorangetrieben werden, findet der Politologe Wadim Truchatschjow,
Abkehr von Westeuropa: Russland muss seine Wendung nach Osten und Süden festigenQuelle: Sputnik © Pressedienst des russischen Außenministeriums

Von Wadim Truchatschjow

Im vergangenen Jahr hat Russland gezwungenermaßen die geografischen Prioritäten seiner Außenpolitik revidiert. Kaum war die militärische Spezialoperation begonnen, stürzten die Beziehungen zu den Ländern des kollektiven Westens, die lange Jahre Priorität gehabt hatten, ins Bodenlose. Heute verbinden uns nur noch diplomatische und Überreste der wirtschaftlichen Beziehungen. Die Visa in die meisten Länder werden zwar noch erteilt, doch ist es wegen der Aufhebung direkter Transportverbindungen schwierig, dorthin zu kommen.

Auf die Einschränkungen antwortete Russland mit einer eigenen Liste von unfreundlichen Staaten. Darauf befinden sich alle Länder des kollektiven Westens, die Ukraine sowie die nach einer EU-Mitgliedschaft strebenden Albanien, Montenegro und Nordmazedonien. Die Präsenz von Japan und Singapur auf der Liste, die zwar kulturell nicht zum Westen gehören, doch politisch vollständig zu einem Teil desselben wurden, überrascht ebenso wenig wie die des vollständig von den USA abhängigen Taiwan. Australien und Neuseeland müssen gar nicht erst erwähnt werden, es sind Angelsachsen durch und durch. Natürlich gibt es auch auf dieser Liste gewisse Spannungen. Bemerkbare Abweichungen von der Sanktionspolitik zeigt Ungarn, und seine Präsenz auf der Liste der unfreundlichen Staaten ist lediglich der Mitgliedschaft in der EU und der NATO geschuldet. Einzelne Verstöße gegen die antirussische Generallinie erlauben sich Italien, Österreich, Griechenland, Zypern, Malta sowie die nicht zur EU gehörende Schweiz. Südkorea schloss sich nicht allen Sanktionen an und kann deswegen auch nur unter großen Vorbehalten als unfreundlich bezeichnet werden.

Doch was passiert außerhalb des kollektiven Westens? Moldawien hat die Sanktionen vollständig unterstützt und insgesamt seit Langem einen Platz auf der Liste verdient, wurde dort aber wohl aus "alter sowjetischer Freundschaft" nicht aufgenommen. Außerhalb der zum Westen zählenden Länder verhängte nur Mikronesien alle möglichen Einschränkungen und brach die diplomatischen Beziehungen zu Russland gleich nach der Ukraine ab. Außerdem wurden die Reihen der unfreundlichen Staaten durch die Bahamas verstärkt, die traditionell in allen Fragen auf die USA blicken. Das ist alles, sonst ist da niemand.

Man könnte noch an zwölf Staaten erinnern, die sich auf die eine oder andere Weise der westlichen Linie anschließen, aber keine Sanktionen verhängen. Entweder liefern sie Waffen an die Ukraine, stimmen in der UNO ständig für antirussische Resolutionen oder führten gewisse Einschränkungen gegenüber Russland ein. Natürlich gehört dazu Georgien, das seit Langem nicht einmal diplomatische Beziehungen zu Russland unterhält. Die Türkei, die die Ukraine bewaffnet und in der UNO ständig gegen Russland stimmt, überrascht auch nicht, handelt es sich doch um einen NATO-Staat.

Bosnien und Herzegowina verhängt nur dank der Präsenz von Serben in der Regierung keine Sanktionen – Muslime und Kroaten hätten es längst getan. Besonders unangenehm ist die Präsenz von Aserbaidschan in dieser Aufzählung. Das Land stimmte für eine Verurteilung Russlands im Rahmen der Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung und dementierte nicht die Anschuldigungen von Munitionslieferungen an die Ukraine, wie es beispielsweise Pakistan tat. Doch darüber hinaus erscheint alles recht alltäglich. Unter arabischen Ländern könnte hier allein Marokko aufgezählt werden, unter lateinamerikanischen Guatemala, unter schwarzafrikanischen Liberia.

In Südasien erlaubte sich allein Bangladesch offensichtlich unfreundliche Handlungen gegen Russland. Schließlich wurden vier weitere Staaten sowohl bei antirussischen Abstimmungen in der UNO als auch bei der Unterstützung einiger Sanktionen Russland beobachtet. Es sind St. Kitts und Nevis in der Karibik sowie drei Inselstaaten in Ozeanien – Fidschi, Kiribati und die Marshallinseln. Doch auch hier gibt es nichts Überraschendes. Sie alle sind aufs Engste mit den USA, Großbritannien oder Australien verbunden. Somit beteiligen sich an antirussischen Handlungen unterschiedlichen Ausmaßes 61 UN-Staaten sowie Taiwan und das teilweise anerkannte Kosovo, dessen Fall ebenfalls keiner Erklärung bedarf.

Brasilien, Argentinien, Mexiko, Thailand, Indonesien, Pakistan, Ägypten, Saudi-Arabien – all diese Staaten nehmen eine neutrale Position ein, und Russland arbeitet mit ihnen in zahlreichen internationalen Fragen zusammen. Deswegen wirken die Sanktionen nicht so stark, wie es der Westen gern hätte.

Und gerade diese Länder sind es, auf die sich die Anstrengungen der russischen Diplomatie richten müssen. Selbstverständlich zählen dazu auch Länder (in erster Linie China, Indien und Südafrika), die sich bei Abstimmungen über antirussische Resolutionen in der UNO erhalten. Im Grunde ist diese Wendung nach Osten und Süden bereits vollzogen. Man beobachte allein die Geografie der Besuche des russischen Außenministers Sergei Lawrow im vergangenen Jahr. Multipolare Welt – das sind diese Länder. Und Russland muss Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit ihnen finden, sie vor allem von seiner Nützlichkeit überzeugen.

Bis zum Jahr 2022 war die Lage ganz anders. Schloss man China, Indien und die postsowjetischen Länder (die per definitionem keine Priorität haben können) aus, war die größte Aufmerksamkeit der russischen Diplomatie auf den kollektiven Westen gerichtet. In sicherheitspolitischen Konzepten wiederholte es sich immer und immer wieder. Russland versuchte, zu verhandeln, irgendwelche Kontaktpunkte zu finden, zumindest den Anschein eines gemeinsamen Raums "von Lissabon bis Wladiwostok" zu schaffen. Und trauerte jedes Mal, wenn es scheiterte.

Doch bei allen kulturellen, religiösen und alltäglichen Unterschieden ist es einfacher, einen Dialog mit dem globalen Osten und Süden als mit Europa zu führen. Beispielsweise deshalb, weil es dort im Gegensatz zum Westen keine jahrhundertealte Tradition der Russophobie gibt. Eigene antirussischen Ressentiments haben allenfalls Japan und die Türkei. In allen anderen Ländern sind es die durch unter der Dominanz der USA importierten Stereotypen, die zerstört werden können, wenn man diesen Staaten die nötige Aufmerksamkeit schenkt. Und Respekt, den gerade der Westen in seiner Überheblichkeit nicht zeigt.

Russlands Aufgabe besteht darin, den kollektiven Westen so weit zu isolieren, dass sich ihm in der Frage des Drucks auf Russland niemand anschließt. Man muss sagen, dass die russische Diplomatie dies teilweise geschafft hat. Und weitere Anstrengungen müssen auf Asien, Nahost, Afrika, Lateinamerika und sogar Ozeanien konzentriert werden.

Paradoxerweise werden Erfolge im Osten und Süden auch Änderungen im Westen herbeiführen. Wenn Europa und die USA erkennen, dass Russland über feste Positionen in der restlichen Welt verfügt und nicht unter Druck gesetzt werden kann, werden sie mit Russland sprechen. Es ist an der Zeit, in einem neuen Konzept der russischen Außenpolitik die Priorität auf den Nicht-Westen zu legen und den Dialog mit dem Westen nur insofern wie nötig zu führen. Russlands Platz liegt heute zwischen dem Osten und dem Süden, selbst wenn es beträchtliche kulturelle Unterschiede gibt.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

Wadim Truchatschjow ist ein Politologe und Historiker. Er lehrt an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität.

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