Lateinamerika

Warum man dem Westen nicht zutrauen kann, dass er seine roten Linien nicht selbst überschreitet

Es gibt in der EU und in der NATO den harten Kern der Eskalationisten, und es ist beruhigend, dass diese besonders eifrigen Kriegstreiber vorerst nicht die Oberhand haben. Aber sie sind auch nicht zum Schweigen gebracht oder auch nur angemessen marginalisiert worden.
Warum man dem Westen nicht zutrauen kann, dass er seine roten Linien nicht selbst überschreitetQuelle: Gettyimages.ru © Maryam Majd / Getty

Von Tarik Cyril Amar

Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sind sich öffentlich darüber uneinig, wie sie die Ukraine – die vom Westen rücksichtslos als geopolitischer Rammbock eingesetzt wird – in ihrem Konflikt mit Russland unterstützen sollen. Macron nutzte ein von ihm einberufenes EU-Sondertreffen – Gerüchten zufolge angeregt vom ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij – um zu erklären, dass die Entsendung westlicher Kampftruppen in die Ukraine eine Option sei.

Natürlich hat der Westen bereits Truppen vor Ort, darunter auch solche, die dürftig zu Freiwilligen und Söldnern erklärt wurden oder sich auf andere Weise am Konflikt beteiligen – zum Beispiel bei der Planung gezielter Angriffe gegen Russland, wie kürzlich durchgesickerte US-Dokumente bestätigt haben. Aber ein offenes Eingreifen von Bodentruppen des Westens wäre eine ernste Eskalation. Dies würde Russland und die NATO auf direkten Konfrontationskurs bringen, was eine nukleare Eskalation zu einer realen Möglichkeit machen würde.

Russland hat aus pragmatischen Gründen ein gewisses Maß an westlicher Intervention toleriert. Im Wesentlichen geht es Moskau darum, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen und gleichzeitig einen offenen Konflikt mit der NATO zu vermeiden. Der Kreml ist bereit, einen gewissen Preis für die faktische militärische Einmischung des Westens zu zahlen, solange er zuversichtlich bleibt, den Gegner auf dem ukrainischen Schlachtfeld besiegen zu können. Tatsächlich hat diese Strategie den zusätzlichen Vorteil, dass der Westen seine eigenen Ressourcen dezimiert, während das russische Militär hervorragende praktische Erfahrungen sammeln kann, wie man westliche Militärtechnik neutralisiert – einschließlich der viel gepriesenen "Wunderwaffen".

Man muss den Verlautbarungen Moskaus nicht unbedingt Glauben schenken, sondern einfach eine elementare Logik heranziehen, um zu verstehen, dass es für diese Art der kalkulierten Toleranz eine ebenso kalkulierte Grenze gibt. Sollte die russische Führung zu dem Schluss kommen, dass westliche Streitkräfte in der Ukraine ihre militärischen Ziele gefährden – anstatt sie nur zu erschweren –, so würde dies den Preis für bestimmte westliche Länder erhöhen.

Provoziert Deutschland einen "ernüchternden Angriff" Russlands?

Nehmen wir als Beispiel Deutschland: Berlin ist mit Abstand der größte Finanzförderer der Ukraine innerhalb der Staaten der EU – zumindest was die Zusagen betrifft. Doch militärisch begnügt sich Russland vorerst damit, die deutschen Leopard-Panzer bei ihrer Ankunft auf dem Schlachtfeld zu Schrott zu schießen. Und in gewisser Weise kann man die Bestrafung für die deutsche Einmischung getrost der deutschen Regierung überlassen: Deutschland hat nebst massiven Einbußen in seiner Wirtschaft auch Schaden bei seinem internationalen Ansehen hinnehmen müssen.

Doch wenn Berlin in seiner Unterstützung für die Ukraine noch weiter gehen würde, dann würden sich die Berechnungen in Moskau ändern. In diesem Fall könnte ein "ernüchternder Angriff" – um einen Begriff aus der russischen Militärdoktrin zu verwenden – auf deutsche Streitkräfte und deutsches Territorium möglich werden, wenn auch zunächst sehr wahrscheinlich nicht nuklear, es sei denn, die deutschen Massenmedien bringen die deutschen Bürger zum Nachdenken. Die innenpolitischen Folgen eines solchen Angriffs wären unvorhersehbar. Die Deutschen könnten sich entweder trotzig um ihre Flagge scharen oder offen gegen eine bereits zutiefst unpopuläre Regierung rebellieren, die nationale Interessen mit beispielloser Unverblümtheit der Washingtoner Geopolitik geopfert hat.

Wenn Sie denken, dass das oben Beschriebene gar etwas zu dramatisch klingt, dann verweise ich auf jemanden, der Ihre Selbstzufriedenheit offensichtlich nicht teilt: auf den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Genervt von der Provokation von Macron, gab Scholz diesem umgehend Kontra, was vielsagend ist. Innerhalb von 24 Stunden nach der überraschenden französischen Erklärung schloss Scholz öffentlich die Entsendung von Bodentruppen europäischer Staaten und der NATO aus und betonte, dass dies als eine rote Linie vereinbart worden sei.

Darüber hinaus hat der Kanzler bei dieser Gelegenheit bekräftigt, dass Deutschland seine Taurus-Marschflugkörper nicht an Kiew liefern wird, was von fanatischen Befürwortern in Deutschland vehement gefordert wird. Mit der militärischen Fähigkeit, Moskau anzugreifen, haben diese deutschen Marschflugkörper in ukrainischer Hand – im Verbund mit den hypothetischen Bodentruppen von Macron – laut Scholz eines gemeinsam: Sie bergen die ernsthafte Gefahr einer Ausweitung des Krieges über die Ukraine hinaus, insbesondere in Richtung Westeuropa und Deutschland.

Mit anderen Worten: Die politischen Führer der beiden Länder, die als Kern der Europäischen Union gelten, haben in einer Schlüsselfrage tiefe Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck gebracht. Es stimmt, dass Macron oft mehr sagt, als er eigentlich meint, während Scholz ein extremer Opportunist ist. Darüber hinaus deuten eindeutige Indiskretionen aus der jeweiligen Entourage auf eine gegenseitige und tief empfundene Antipathie hin, wie Bloomberg berichtet hat.

Man könnte diese Animositäten zwischen Scholz und Macron als das Ergebnis unvereinbarer politischer Stile und gegenseitiger Aversion abtun. Aber das wäre ein schwerer Fehler. In Wirklichkeit ist ihre offene Uneinigkeit ein wichtiges Signal für den Stand des Denkens, der Debatte und der Politikgestaltung innerhalb der EU und allgemein der NATO und im Westen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, die Bedeutung dieses Signals zu entschlüsseln.

Zunehmender Pessimismus, vielleicht sogar Panik bei den westlichen Eliten

Beginnen wir mit etwas, was die beiden nicht offen zugeben, aber so gut wie sicher teilen: Der Hintergrund ihres Streits ist ihre Angst, dass die Ukraine und der Westen nicht nur den Krieg verlieren, sondern, was noch wichtiger ist, dass im informationsorientierten Westen diese Niederlage irgendwann unbestreitbar offensichtlich werden wird. Beispielsweise durch weitere russische Vorstöße an der Front, weitere strategische Siege wie die Einnahme von Awdejewka und einen teilweisen oder vollständigen Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigungslinien. 

Sogar der entschieden bellizistische Economist räumt mittlerweile ein, dass sich Russlands Offensive zusehends "verschärft", dass der Sturz von Awdejewka das russische Militär nicht innehalten ließ und dass die Ukrainer selbst zunehmend pessimistischer werden. Sowohl die Äußerungen von Macron als auch jene von Scholz sind Anzeichen für einen zunehmenden Pessimismus, vielleicht sogar der Beginn einer Panik innerhalb der westlichen Eliten.

Allerdings sagt uns das nicht viel darüber, wie diese Eliten auf dieses verlorene Spiel reagieren werden – vorausgesetzt, sie wissen es überhaupt selbst. Grundsätzlich gibt es zwei strategische Optionen: den Einsatz noch mal erhöhen oder die Verluste minimieren. Zum jetzigen Zeitpunkt dominiert immer noch die Fraktion der "Einsatzerhöher" die politische Debatte. Die negative Reaktion auf die Äußerungen von Macron hat überschattet, dass der allgemeine Trend bei der NATO und in der EU immer noch in die Richtung geht, dem Krieg in der Ukraine weitere Ressourcen zuzuführen, beispielsweise durch die Einigung, Munition auch von außerhalb der EU zu beziehen – ein Schritt, dem sich Frankreich lange widersetzt hat. Zumindest soweit die Öffentlichkeit es sehen darf, werden die NATO und die EU noch immer von Spielsüchtigen regiert: Je mehr sie bereits gescheitert sind und verloren haben, desto mehr wollen sie riskieren.

In Wirklichkeit machen die Option der Täuschung und die Versuchung der Selbsttäuschung – was leicht ineinander übergehen kann – die Sache jedoch komplizierter: Nehmen wir zum Beispiel die abgehörte Telefonkonferenz, bei der hochrangige deutsche Militäroffiziere darüber diskutierten, wie die Ukraine trotzdem zu ihren Taurus-Marschflugkörpern kommen und man dabei gleichzeitig eine "glaubhafte Abstreitbarkeit" aufrechterhalten könne. Die von Scholz gemachte Äußerung, dass "deutsche Soldaten zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort mit Angriffen mittels Taurus in Verbindung gebracht werden dürfen", ist ein Hinweis darauf, dass er darüber nachgedacht hat, sich der Verantwortung zu entziehen – oder über die Möglichkeit, dies nicht tun zu können. Genau wie man es von einem Politiker erwarten würde, dessen einzige Strategie darin besteht, den Weg des geringsten Widerstands zu finden.

Anstatt zuzugeben, dass diese Telefonkonferenz stattgefunden hat, hat die Bundesregierung – in typisch autoritärer Weise – damit reagiert zu veranlassen, dass Social-Media-Konten blockiert werden, die es wagten, über diese Affäre zu berichten und das aufgezeichnete Gespräch publiziert haben – und indem man obendrein versucht hat, den Inhalt des Gesprächs als nichts anderes als ein harmloses Gedankenspiel darzustellen. Und doch bedeuten die verdächtig dehnbare Formulierung von Scholz und das Gesprächsthema der deutschen Offiziere nicht, dass ein solcher Kurs der naiv durchsichtigen Mogelei von Berlin übernommen wird. Vielleicht war es sogar eine Möglichkeit herauszufinden, dass das nicht funktionieren wird.

Die Entscheidung Russlands, diese abgehörte Telefonkonferenz zu veröffentlichen und möglicherweise sogar einen – wenn auch geringfügigen – geheimdienstlichen Nachteil zu riskieren und das Ausmaß der Durchdringung beim deutschen Militär preiszugeben, ist natürlich auch ein Signal an die deutsche Führung: Moskau wird das Spiel mit der "glaubhaften Abstreitbarkeit" nicht mitspielen und meint es absolut ernst mit dieser roten Linie. Auch dies könnte dazu beitragen, die Aufmerksamkeit in Berlin zu schärfen und weitere Mogeleien weniger wahrscheinlich zu machen.

Macrons Getrommel ging spektakulär nach hinten los

Auf jeden Fall offenbart der Umstand, dass deutsche Offiziere darüber nachdenken, wie sie zum Angriff auf Russland beitragen können, ohne deutsche Fußspuren zu hinterlassen, zwei Dinge: Öffentliche Äußerungen aus dem Westen können ohne Weiteres bewusste Lügen sein. Und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, ist man immer offen für radikale Korrekturen. Tatsächlich hat auch Macron auf diese Tatsache angespielt und darauf hingewiesen, dass die rote Linie einer direkten militärischen Intervention, auch wenn es noch keinen Konsens gibt, so wie andere rote Linien zuvor überschritten werden könnte, wenn es plötzlich doch einen solchen Konsens gebe.

Vor diesem Hintergrund könnte das lockere Gerede von Macron auch als ein weiterer Bluff gelesen werden – oder, wie man in Frankreich sagt, als "strategische Ambiguität": ein verzweifelter Versuch, sich so energisch wie möglich auf die Brust zu trommeln, sodass Russland seinen militärischen Vorteil nicht ausnutzen wird. Wenn das die Absicht des französischen Präsidenten war, ist es spektakulär nach hinten losgegangen. Macron hat nicht nur Deutschland, sondern auch andere, größere westliche Akteure dazu gebracht, deutlich zu machen, dass sie nicht mit ihm übereinstimmen. Hinweis an den Élysée-Palast: Es ist nicht "Ambiguität", wenn jeder, der zählt, "Auf keinen Fall!" sagt. Und ist auch nicht sehr "strategisch".

Dennoch wäre es selbstgefällig, sich aus der aktuellen Isolation von Macron Trost zu holen. Erstens ist die Isolation nicht vollständig: Es gibt innerhalb der EU und der NATO den harten Kern der Eskalationisten, wie die estnische Premierministerin Kaja Kallas, die Macron gerade deshalb für seinen Vorstoß gelobt hat, weil sie alle anderen in einen direkten Konflikt mit Russland hineineinziehen will. Es ist beruhigend, dass diese besonders eifrigen Kriegstreiber vorerst nicht die Oberhand haben. Aber sie sind auch nicht zum Schweigen gebracht oder auch nur angemessen marginalisiert worden – und diese Leute werden nicht aufgeben.

Zweitens kann eine Strategie der Eskalation und der Drohgebärden leicht außer Kontrolle geraten. Man bedenke die viel zu wenig bekannte Tatsache, dass selbst der Deutsche Kaiser Wilhelm II. in der Julikrise von 1914, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, Momente hatte, in denen er heimlich vom Gefühl beschlichen wurde, dass alles noch vermeidbar sei. Dies geschah jedoch, nachdem er und seine Regierung alles dafür getan hatten, um diesen Krieg herbeizuführen. Die Lektion daraus: Wer zu viele Risiken eingeht, kann die von ihm selbst in Gang gebrachte Eskalation irgendwann nicht mehr zurückschrauben.

Drittens und am grundlegendsten ist, dass rational angewandte Unehrlichkeit in der internationalen Politik zwar nicht ungewöhnlich ist, ein internationales System aber erst Vorhersehbarkeit herstellen muss, damit es Stabilität schafft. Das wiederum erfordert, dass auch die Täuschung in stillschweigend vereinbarten Grenzen gehalten wird und – aufgrund der ihr zugrunde liegenden Rationalität – bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar bleibt. Das Problem mit dem Westen nach dem Kalten Krieg besteht darin, dass er sich dazu entschieden hat, diese Grundregel der globalen Ordnung über Bord zu werfen. Die Sucht des Westens nach Unzuverlässigkeit ist so stark, dass Signale einer Eskalation grundsätzlich glaubwürdiger sind als Signale einer Deeskalation, solange es nicht zu einer grundsätzlichen, allgemeinen und klar erkennbaren Änderung der Vorgehensweise kommt.

Oder anders ausgedrückt: Die derzeitige Isolation von Macron zählt nicht viel, da die gewissenhafte Interpretation aus der Sicht von Moskau darin bestehen muss, dass er lediglich etwas zu früh zu weit gegangen ist. Westliche Desavouierungen machen für Moskau keinen Unterschied. Was einen Unterschied machen würde, wäre ein gemeinsames und klares Signal des Westens, dass man nun zu echten Verhandlungen und einer echten Kompromisslösung bereit ist. Aber vorerst bleibt das Gegenteil der Fall.

Aus dem Englischen

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.

Mehr zum Thema – Macron legt nach: "Glaubwürdigkeit Europas auf null bei einem Sieg Russlands" 

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